Explosion hellen Glücks – was Nahtoderfahrungen über den Glauben sagen
Für viele klingen sie skurril und unglaubwürdig: Nahtoderfahrungen. Meist treten sie nach Unfällen oder in medizinischen Grenzsituationen auf, wenn das Leben nur noch am seidenen Faden hängt. Menschen, die selbst Nahtoderfahrung hatten, beschreiben das Erlebnis in der Regel als untrüglichen Bewusstseinszustand – deutlich zu unterscheiden von einem Traum. Einer davon ist der emeritierte Tübinger Religionspädagoge Albert Biesinger. Bei einem Routineeingriff kam es bei ihm 2010 zu schweren Komplikationen. Aus der geplanten Kurzvisite im Krankhaus wurden mehrere Tage künstlichen Komas auf der Intensivstation.
Während dieser Zeit erlebt Biesinger einen Zustand größten Glücks, den er heute als Vorausblick auf den Himmel deutet. Die Nahtoderfahrung ist für ihn zwar kein Gottesbeweis, aber sie könne ein Hinweis auf ein Leben nach dem Tod sein. Im katholich.de-Interview erklärt der Theologe, warum er medizinische Erklärungsversuche des Phänomens nicht im Widerspruch zu seiner Deutung sieht und wie das Erlebnis sein Leben verändert hat.
Frage: Herr Biesinger, Sie hatten selbst eine Nahtoderfahrung. Laut Ihren Beschreibungen kam dabei zunächst eine Art Walze auf Sie zu. Dann haben Sie eine Stimme gehört und die bedrohliche Situation verwandelte sich in reines Glück. Wie hat sich das angefühlt?
Biesinger: Das war ein Zustand, den ich bis dahin nicht kannte. Ich habe in meinem Leben viele Glückserfahrungen gehabt, aber ein solches Glück gibt es auf dieser Erde nicht. Ich kann das Gefühl eigentlich nur als Explosion von hellem Glück beschreiben. Die Stimme kannte mich offensichtlich, denn sie sagte zu mir: "Jetzt ist es so weit. Jetzt bist du gleich im Himmel. Darauf hast du doch so oft hingepredigt." Es war nicht meine eigene Stimme. Zu dem Glücksgefühl mischte sich eine große spitzbübische Neugier. Ich hatte zu dem Zeitpunkt die Grenze noch nicht überschritten – sonst wäre ich jetzt ja nicht hier –, aber das wollte ich unbedingt. Das hielt eine ganze Weile so an, bis die Stimme sagte: "Schade um deine Frau." Da brach dieser Bewusstseinszustand ab und ich musste mich zurück in meinen schwerstkranken Körper kämpfen.
Frage: Eine Zeit lang hatten Sie also das Gefühl, Ihren Körper hinter sich zu lassen?
Biesinger: Ja, dieses Glück hatte einen regelrechten Sog, durch den ich nur noch nach vorne orientiert war. Mein Körper war nach massiven Komplikationen nach einer Routineoperation offensichtlich am Ende und konnte nur durch das künstliche Koma gerettet werden. Ich wollte den Glückszustand unbedingt aufrechterhalten, aber es ging nicht. Seitdem habe ich mich oft dahin zurückgesehnt. Viele Menschen mit Nahtoderfahrungen brauchen anfangs psychologische Hilfe, weil ihr Leben nicht mehr richtig wertschätzen können.
Frage: Sie sind mit Ihrem Erlebnis von Anfang an sehr offen umgegangen. Hatten Sie keine Sorge, dass sie deshalb in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht werden?
Biesinger: Nein, das war mir egal. Tatsächlich handelt es sich aber immer noch um ein Tabuthema und das, obwohl rund fünf Prozent der Bevölkerung solche Bewusstseinserfahrungen machen. Drüber wird viel zu wenig gesprochen. Ich bin leider einer der wenigen Theologen, die das Thema behandeln und öffentlich kommunizieren. Als ich nach meinem mehrmonatigen Aufenthalt auf der Intensivstation und in der Reha zurück an die Uni kam und zum ersten Mal von meinen Erfahrungen berichtet habe, habe ich eine für mich überraschende mediale Aufmerksamkeit bekommen. Im Anschluss daran wurde ich immer wieder in der Öffentlichkeit angesprochen: Gut, dass mal ein Theologe darüber spricht. Einer hat mich sogar gebeten, seiner Frau zu erklären, dass er wegen seiner Erfahrungen nicht in die Psychiatrie gehört. Sie wollte ihm einfach nicht glauben. Genau für diese Menschen, die selbst betroffen sind, ist es sehr wichtig, offen über das Thema zu sprechen.
Frage: Hat diese tabuisierende Haltung damit zu tun, dass man in der Gesellschaft nicht gerne über spirituelle oder jenseitige Dinge spricht?
Biesinger: Das ist das eine, dass man vielleicht verlernt hat, in der Öffentlichkeit über so etwas wie die großen Geheimnisse des Lebens zu sprechen. Das andere ist, dass es sich für Außenstehende oft so unglaublich anhört, wenn Menschen von ihren Nahtoderfahrungen sprechen, dass man es lieber als verrückt abtut und im gewohnten Trott weiterlebt.
Frage: Durch die Corona-Pandemie sind Krankheit und Vergänglichkeit aktuell sehr präsente Themen. Glauben Sie, dass sich unsere Sicht auf den Tod dadurch verändern wird?
Biesinger: Die Erfahrung, dass Krankheit und Tod plötzlich anders näherkommen, auch bei gesunden Personen im mittleren Alter, macht bestimmt viele nachdenklich. Auch Menschen, die sich bisher stark gefühlt haben – vielleicht sogar mit einer gewissen Überheblichkeit –, erleben jetzt, dass sie nicht unverletzbar sind. Ich denke, das kann den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod durchaus verändern und zu einem bewussteren Leben führen. Andererseits gibt es natürlich auch die Leute aus der sogenannten Querdenker-Szene, die sich dieser Erfahrung verschließen und ganz fatalistisch sagen: Dann ist es halt vorbei, wenn ich sterbe. Und wenn sie diese Einstellung von allen erwarten, halte ich das ehrlich gesagt für eine Frechheit.
Frage: Nochmal zurück zur Nahtoderfahrung: Von medizinischer Seite lässt sich das Phänomen immer noch nicht ganz erklären. Es gibt die Theorie, dass solche Erfahrungen durch besondere Hirnaktivitäten hervorgerufen werden, die es unserem Bewusstsein leichter machen sollen, Abschied zu nehmen. Wie bewerten Sie das theologisch?
Biesinger: Ich sehe diese medizinischen Erklärungsversuche nicht im Widerspruch zur theologischen Verheißung, dass wir über den Tod hinaus bei Gott aufgehoben sind. Dass die Evolution, die ich als Teil der Schöpfung Gottes verstehe, uns die Stunde des Sterbens durch Hormonausschüttung oder besondere Hirnaktivitäten erleichtert, halte ich für sehr plausibel. Neurologen vermuten, dass das Gehirn mit dieser Überaktivität auf die Ausnahmesituation reagiert, die Organe und sich selbst nicht mehr richtig steuern zu können. Und offensichtlich nimmt unser Bewusstsein diese Situation als befreiend und beruhigend wahr und verbindet sie mit uns bereits vertrauten Bildern.
„Eine Nahtoderfahrung ist kein Gottesbeweis und auch kein Beweis dafür, dass es eine Auferweckung der Toten gibt. Ich würde nicht beanspruchen, dass ich die Stimme Gottes gehört habe. Aber solche Erlebnisse sind ein Hinweis, dass es ein Bewusstsein gibt, das mehr ist als unser Körper.“
Frage: Das klingt sehr nach einer Projektion unserer religiösen Erwartungen.
Biesinger: Nahtoderfahrungen gibt es in allen Kulturen und Religionen und auch bei Menschen, die nicht religiös sind. Die Erfahrungen können inhaltlich dabei sehr verschieden sein. Das Bild von einem hellen Licht legt natürlich einen Zusammenhang mit der christlichen Sozialisation nahe. Da ist die Lichtmetaphorik ja sehr präsent – etwa bei Jesus: Ich bin das Licht der Welt. Aber das muss gar nicht dagegensprechen, dass die Erfahrung real entsteht, nur weil sie kulturell oder von der Symbolik der jeweiligen Religion geprägt ist. Gleichzeitig muss man aber klar sagen, dass eine Nahtoderfahrung kein Gottesbeweis ist und auch kein Beweis dafür, dass es eine Auferweckung der Toten gibt. Ich würde nicht beanspruchen, dass ich die Stimme Gottes gehört habe. Aber solche Erlebnisse sind ein Hinweis, dass es ein Bewusstsein gibt, das mehr ist als unser Körper.
Frage: Hat die Nahtoderfahrung Ihre Sicht auf das Leben verändert?
Biesinger: Ich bin auf jeden Fall anders zurückgekommen. Seitdem haben sich zum Beispiel meine Prioritäten verschoben. Ich entscheide heute viel klarer nach dem, was mir wirklich wichtig ist, und ich überlege zweimal, bevor ich mich zu etwas äußere oder mich darüber aufrege. Das hat manche ganz schön auf die Palme gebracht, dass ich auf ihre Konflikte gar nicht mehr eingegangen bin. Auf der spirituellen Seite hat sich bei mir die Angst vor dem Tod, die ich trotz aller Theologie immer noch hintergründig hatte, komplett aufgelöst. Ich habe zwar nach wie vor Respekt vor dem Sterben – je nachdem, welche Krankheiten man vielleicht hat –, aber ich habe keine Angst mehr vor dem Zustand danach, weil ich ja schon ein Stück Weitergehen erlebt habe. Ich sehe mich da als eine Art Grenzgänger, das hilft mir zum Beispiel auch als Diakon im Gespräch mit Sterbenden, ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen. Heute bin froh, diese Nahtoderfahrung gemacht zu haben. Oft stelle ich mir vor dem Einschlafen dieses explosive Glück vor.