Michael Blume hatte vor Verschwörungsmythen aus Kirchenkreisen gewarnt

Experte über Äußerungen Müllers: "Theologischer Kardinalfehler"

Veröffentlicht am 15.12.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Gibt es einen Plan hinter der Pandemie zur "Gleichschaltung" der Gesellschaft und "totalen Kontrolle"? Das hat jedenfalls Kardinal Gerhard Ludwig Müller behauptet und damit große Kritik hervorgerufen. Experte Michael Blume ordnet die Äußerungen ein.

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Kardinal Gerhard Ludwig Müller spricht in einem Interview davon, Vertreter der Eliten wollten die Pandemie nutzen, um die Menschen "gleichzuschalten" und zu kontrollieren. Auch gebe es Ideen für einen "Great Reset", also einen Sturz der Demokratie. Im Interview bewertet der Stuttgarter Religionswissenschaftler und Publizist Michael Blume die Aussagen des Kardinals.

Frage: Herr Blume, wie bewerten Sie die Ausführungen von Kardinal Müller?

Blume: Ich habe mehrfach ausdrücklich davor gewarnt, dass auch kirchliche Autoritäten wieder Verschwörungsmythen verbreiten werden. Die Schwelle dazu sehe ich bei Kardinal Müller jetzt erreicht. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass sich die Deutsche Bischofskonferenz und der Papst klar für das Impfen und Pandemie-Maßnahmen in christlicher Verantwortung bekannt haben. Einzelne Verschwörungsgläubige auf allen Ebenen stehen nicht für die Kirchen als Ganzes.

Frage: Wie wirkmächtig oder gefährlich sind die Anspielungen auf vermeintliche "Great Reset"-Pläne, also der Verweis auf angebliche Eliten-Verschwörungen zum Sturz der Demokratie, auf die Müller verweist?

Blume: Bereits 2020 habe ich vor einer Verbreitung des aus den USA verbreiteten "Great Reset"-Verschwörungsmythos gewarnt, der sowohl die Gefahren der Covid-19-Pandemie wie auch der Klimakrise leugnet und letztlich die Demokratien rechtspopulistisch bedroht. Auf diesen Verschwörungsmythos hereinzufallen, ist auch ein theologischer Kardinalfehler. Gleichwohl möchte ich würdigen, dass der größte Teil der katholischen Theologie heute fest zu Wissenschaft und Menschenwürde steht.

Bild: ©die arge lola 2019

Religionswissenschaftler Michael Blume ist Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg.

Frage: Kommen beim Sprechen über "Great Reset" antisemitische Motive zum Tragen?

Blume: Definitiv ja, denn der Verschwörungsmythos wird nicht nur mit Klischees über "Finanzeliten", sondern auch konkret mit jüdischen Personen wie der Familie Soros, den Rothschilds, Henry Kissinger und dem impfenden Staat Israel verbunden. Er wirkt vor allem digital ohne Wenn und Aber antisemitisch.

Frage: Sollte der Papst solche Aussagen von Kardinal Müller verhindern?

Blume: Wie derzeit alle anderen Religionsgemeinschaften - und übrigens auch Millionen Familien - steht die katholische Kirche vor einem tiefen Riss zwischen einem erkenntnistheoretischen Monismus, der Wissen und Glauben beieinander hält, und einem gefährlichen Dualismus, der alles Beängstigende auf vermeintliche Weltverschwörer projiziert. Papst Franziskus ist selbst ein klarer und kluger Monist. Aber er fürchtet um den Zusammenhalt der Weltkirche. Doch durch Zögern wird die Verunsicherung nur noch größer, der Dualismus floriert. Daher hoffe ich auf mehr mutige Entscheidungen und in naher Zukunft auf ein klärendes Konzil.

Frage: Machen Ihnen die aktuellen Anti-Impf-Proteste Sorge? Drohen hier Gefahren für Gesellschaft und Demokratie oder sind die Proteste nur von einer kleinen, lautstarken Gruppe getragen?

Blume: Gerade auch im süddeutschen Sprachraum gab es immer wieder Pestpogrome und auch gewalttätige Widerstände gegen das Impfen, etwa in Tirol und im Hotzenwald. Insofern überrascht mich die Radikalisierung nicht, aber sie besorgt mich natürlich dennoch. Doch die Mehrheit der Menschen inner- und außerhalb der Kirchen hält sich an Vernunft und Wissenschaft, so dass ich fest davon überzeugt bin: Die verschwörungsgläubigen Impfgegner bleiben eine laute und teilweise gewaltbereite, aber insgesamt schrumpfende Minderheit. Wichtig ist, dass sich weder der Rechtsstaat noch die Kirchen einschüchtern lassen.

Von Volker Hasenauer (KNA)