"Stille Nacht, deutsche Wacht": Ein Lied zwischen Krieg und Weltfriede
Das Weihnachtslied "Stille Nacht, heilige Nacht" gilt als Friedenslied. Manchmal wird es sogar als "Weltfriedenslied" bezeichnet − und in der Tat verströmt die sanfte Melodie im Sechs-Achtel-Takt in der Verbindung mit dem meditativen Text eine Stimmung, die Ruhe und Frieden verheißt. Als Friedenslied kann "Stille Nacht, heilige Nacht" aber auch aufgrund seiner weltweiten Verbreitung bezeichnet werden. In vielen Ländern der Welt wird es, alle gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede überschreitend, an Heiligabend gesungen. Mittlerweile soll es in über 300 Sprachen und Dialekte übersetzt worden sein.
Entstanden ist das Lied vor mehr als zweihundert Jahren. Pfarrer Joseph Mohr verfasste 1816 den Text, zwei Jahre später schuf der Lehrer Franz Gruber die Melodie dazu. Das Lied erklang zum ersten Mal an Heiligabend des Jahres 1818 in Oberndorf bei Salzburg. Die Zeiten damals waren nicht friedlicher als heute, ganz im Gegenteil. Die napoleonischen Kriege waren erst 1815 zu Ende gegangen, das ehemalige Fürstbistum Salzburg wechselte öfters die Herrschaft: Frankreich, Bayern und schließlich Österreich regierten das Land.
Insofern könnte man die besungene "Stille Nacht" und die ersehnte "himmlische Ruh" auch als Gegenbild zu den Kriegswirren und den politischen Verhältnissen der Zeit verstehen. Darüber hinaus ist im sechsstrophigen Originaltext von Mohr davon die Rede, dass sich an Weihnachten die göttliche "Macht väterlicher Liebe" ergossen habe und Jesus als Bruder "die Völker der Welt" umschließe – ein weiterer Hinweis darauf, dass "Stille Nacht, heilige Nacht" durchaus als ein universales Friedenslied begriffen werden kann.
Allerdings wurde das weltbekannte Weihnachtslied im Laufe seiner zweihundertjährigen Geschichte auch ganz anders genutzt, um nicht zu sagen benutzt. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg belegen, wie "Stille Nacht, heilige Nacht" zur Kriegspropaganda herangezogen wurde. Postkarten waren damals ein relativ neuartiges Medium. Im Deutschen Reich wurden sie erst 1870 eingeführt, das billige Kommunikationsmittel verbreitete sich aber äußerst schnell. Im Ersten Weltkrieg wurden jeden Tag Millionen von Karten von der Front an die Heimat und umgekehrt verschickt.
Geschäftspatriotismus: Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg
Besonders beliebt waren Karten mit farbigen Motiven, darunter auch solche, welche Kirchenlieder thematisierten. Im Krieg waren "Ein feste Burg ist unser Gott" oder "Nun danket alle Gott" als Motive verbreitet, ebenso die Weihnachtslieder "O du fröhliche" und "Stille Nacht, heilige Nacht". Die Karten mit religiösen Motiven wurden keineswegs von den Kirchen in Auftrag gegeben, sondern von kommerziellen Unternehmen produziert. Diese Hersteller orientierten sich dabei nicht an kirchlichen oder theologischen Normen, sondern an der erwarteten Nachfrage und einem nützlichen "Geschäftspatriotismus".
Das erklärt, warum viele Bildpostkarten nicht nur emotionale, sondern stark sentimentale Motive zeigen: Es gab das Bedürfnis, die enge Verbindung zwischen der Heimat und der Front, die Gefühle der Liebe und der gegenseitigen Zuneigung, durch eine entsprechende Bildsprache zu unterstreichen. Der religiöse Kitsch (wenn man diesen wertenden Begriff überhaupt verwenden will) überdeckte dabei die Schrecken des Krieges, die alltäglichen, unaussprechlichen Grausamkeiten und den Tod.
Weihnachtliche Idylle gegen die Realität des Krieges
Eine Bildpostkarte zeigt beispielsweise einen Soldaten, der unter einer schneebedeckten Tanne mit dem Gewehr Wache hält. Er denkt dabei an Frau und Kinder, die in der oberen Hälfte dargestellt sind. Mit der Tanne im Vordergrund korrespondiert der geschmückte Weihnachtsbaum. Am unteren Bildrand ist zu lesen: "Stille Nacht, heilige Nacht".
Eine andere Karte aus der Zeit ist ganz ähnlich gestaltet; die Verbindung zwischen Heimat und Front steht hier ebenfalls im Vordergrund. Wieder wird eine verschneite Landschaft gezeigt, und das nicht ohne Grund: Seit dem 19. Jahrhundert gehört die "weiße Weihnacht" zur Idealvorstellung des Festes. Im Ersten Weltkrieg hatte der Schnee zugleich die symbolische Funktion, eine Illusion der Reinheit und Unschuld zu erzeugen. Der Schnee überdeckte die Schlachtfelder − nur einzelne Requisiten wie ein Wagenrad oder Verhaue erinnern auf den Bildpostkarten an die Realität des Krieges.
Einige Produkte verbanden den Liedanfang von "Stille Nacht, heilige Nacht" mit patriotischen Tönen. So sind auf einer Karte die Verse zu lesen:
Stille Nacht! heilige Nacht!
Niemand schläft, alles wacht,
Gewehr im Arm, Schwert in der Hand.
Schützen wir's teure Vaterland.
Schlaft heim in süßer Ruh'!
Ein anderer Hersteller reimte kurz und bündig: "Stille Nacht, heilige Nacht, / Unsere Helden stehen auf einsamer Wacht!" Ob die Soldaten diese Bild- und Textbotschaften immer teilten, darf bezweifelt werden. Wurden die Karten beschriftet und mit der Feldpost versandt, nahmen die Schreiber kaum Bezug auf die Motive der Vorderseite, sondern wünschen den Adressat:innen zuhause frohe Weihnachten, Gesundheit und einen guten Jahreswechsel.
Abnehmende Bedeutung der institutionalisierten Religion
Die religiösen Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg zeigen, wie Lieder in die damalige Kriegspropaganda eingebettet waren. Die gesamte Öffentlichkeit – einschließlich der christlichen Kirchen – waren nationalpatriotisch gesinnt und unterstützten ideologisch die deutsche Kriegspolitik. Die Kartenproduzenten konnten sich also bei ihrer Motivgestaltung auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen.
Aber die Postkarten weisen noch auf einen anderen Aspekt hin, der die Geschichte der Religiosität seit 1800 begleitet: den Prozess der Säkularisierung. Mit diesem Begriff ist nicht gemeint, dass Religiosität allmählich aus der Lebenswelt verschwindet. Aber die Relevanz des Religiösen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft verändert sich. Dabei standen die Kirchen gewissermaßen auf der Verliererseite, weil sie im Laufe der Zeit an Überzeugungs- und Bindungskraft einbüßten.
Die Liedpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg unterstützen die Säkularisierungsthese: Zum Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" wurden schon Anfang des 20. Jahrhunderts keine Produkte mehr hergestellt, die in einem religiös-kirchlichen Sinn auf das Weihnachtsgeheimnis hindeuteten. Nicht einmal eine Krippenszene ist auf den meisten Abbildungen zu finden. Weihnachten war also schon vor über einhundert Jahren ein weitgehend säkularisiertes Fest, das weniger die Geburt Christi als Heilsereignis, sondern vielmehr die eigene Familie und die Liebe zwischen ihren Mitgliedern feierte. Durch die Kriegszeit wurde der Fokus zusätzlich ins Nostalgische-Sehnsüchtige verschoben − ohne das Morden in Frage zu stellen oder an die universale Heils- und Friedensbotschaft der Menschwerdung Christi zu erinnern.
"Stille Nacht, heilige Nacht" als Weltfriedenslied
Der Mainzer Germanist Hermann Kurzke sprach einmal in Bezug auf Kirchenlieder und nationale Hymnen vom "Schock der Wirkungsgeschichte". Die gesungenen Texte seien nicht integer, sondern könnten missbraucht werden. Die Wirkungsgeschichte treibe den Liedern ihre Unschuld aus. Das trifft sicherlich auch auf "Stille Nacht, heilige Nacht" zu, ganz abgesehen davon, dass nach Kurzke die Hauptwirkung dieses Liedes "folgenlose Ergriffenheit" darstellt. "Die Tränen fließen, aber am nächsten Tag wird wieder gerechnet, übervorteilt, gemordet", schreibt der Wissenschaftler kritisch. Das ist ein hartes Urteil, aber gerade im Hinblick auf die Liedpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg ist dieser Befund kaum zu leugnen.
Und dennoch: Vielleicht ließen und lassen sich Menschen von dem Lied nur kurz verzaubern und reagieren nur sentimental. Trotzdem hält "Stille Nacht, heilige Nacht" die Sehnsucht nach Erlösung offen – wie immer diese im Einzelnen auch verstanden und ausbuchstabiert wird. Das Lied artikuliert eine bis heute uneingelöste Utopie: dass es Frieden werde auf Erden und alle Menschen zueinander finden.
Der Autor
Der promovierte Theologe und Germanist Michael Fischer, geboren 1968 in Heidelberg, ist Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg (ZPKM) und zugleich Honorarprofessor an der Hochschule für Musik Freiburg. Das ZPKM ging aus dem Deutschen Volksliedarchiv hervor und widmet sich der Erforschung populärer Musikkulturen.