Ein Interview über Gesundheit und Verantwortung in der Bibel

Exegetin: Jesus lässt sich nicht auf Seite der Impfgegner ziehen

Veröffentlicht am 30.12.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Eichstätt ‐ Manche Impfgegner begründen ihre Ablehnung religiös. Zu Unrecht, sagt die Exegetin Sabine Bieberstein im katholisch.de-Interview. Die Bibel gebe zwar keine Antworten auf heutige medizinische Fragen – Jesu Zuwendung zu den Kranken und die Haltung der frühen Christen sprächen aber eine deutliche Sprache.

  • Teilen:

Der Großteil der Deutschen hat die Impfung gegen das Corona-Impfung selbstverständlich akzeptiert. Unter denen, die sie ablehnen, kursieren zum Teil auch religiöse Argumente. Im Interview mit katholisch. de stellt die Eichstätter Exegetin Sabine Bieberstein dagegen klar: Jesus lässt sich weder auf die Seite der Impfgegner noch auf die der Befürworter ziehen. Die Frage habe sich unter den damaligen Voraussetzungen schlicht nicht gestellt. Betrachte man aber die größeren Zusammenhänge, spreche das Handeln Jesu und der frühen Kirche eindeutig fürs Impfen. Ein Gespräch über Verantwortung, Gesundheit und Gesundwerden in der Bibel.

Frage: Frau Bieberstein, über 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind inzwischen vollständig geimpft, gut eine Million Dosen werden weiterhin täglich verabreicht. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die sich der Impfung bisher verweigern und ihre Ablehnung zum Teil mit religiösen Motiven begründen. In den Sozialen Medien begegnen uns beispielsweise immer wieder Kommentare wie "Jesus würde sich niemals impfen lassen". Wie reagieren Sie als Neutestamentlerin auf solche Aussagen?

Bieberstein: Erstmal muss man festhalten, dass wir in einer ganz anderen Zeit leben. Zur Zeit Jesu hatte man unser heutiges medizinische Wissen nicht und es gab keine Möglichkeit, sich präventiv vor Krankheiten zu schützen. Deshalb ist es völlig unangemessen, Jesus als Impfgegner auf seine Seite zu ziehen. Genauso ist es aber auch nicht möglich zu sagen, Jesus hätte sich auf jeden Fall impfen lassen. Das ist schlicht eine Frage, die sich zur damaligen Zeit nicht gestellt hat und für die die Bibel deshalb keine konkrete Antwort zulässt. Ich halte es für produktiverer zu fragen, wie biblische Texte insgesamt mit Krankheit, Verletzlichkeit und Schwachheit von Menschen umgehen.

Frage: Was lässt sich dazu sagen?

Bieberstein: Ich sehe sowohl im Alten Testament als auch mit Fokus auf Jesus im Neuen Testament ein großes Bewusstsein dafür, dass menschliches Leben von Krankheit und Schwachheit geprägt ist. Und hier tritt Jesus ganz klar als Heiler auf: Er geht über die Leidenserfahrung nicht einfach hinweg und sagt: das Seelenheil ist wichtiger als die Gesundheit, sondern er will, dass die Menschen wieder aufatmen können. Es ist ein Kernelement seiner Botschaft vom anbrechenden Gottesreich, dass Kranke geheilt und Dämonen in die Flucht geschlagen werden. Das Reich Gottes wird auch und gerade in der körperlichen Heilung erfahren.

Die Exegetin Sabine Bieberstein
Bild: ©KU Eichstätt-Ingolstadt

Sabine Bieberstein ist Professorin für Neues Testament und Biblische Didaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Lukanische Doppelwerk sowie Identitätskonstruktionen im Kontext frühjüdisch-frühchristlicher Geschichte. Seit 2013 unterrichtet sie außerdem Exegese des Alten Testaments.

Frage: Verbergen sich dann hinter den biblischen Wundererzählungen eigentlich medizinische Heilungen?

Bieberstein: Ja und nein. Einerseits werden konkrete Krankheiten wie Fieber, Aussatz, Blindheit oder Lähmungen benannt, und die Erzählungen zeigen, dass Menschen von diesen Beeinträchtigungen befreit werden. Andererseits verwendet Jesus nur in Einzelfällen Hilfsmittel, die man im weitesten Sinne als medizinisch bezeichnen könnte. Zum Beispiel bestreicht er die Augen eines Blinden mit Speichel (Mk 9,23) oder fabriziert einen Teig aus Erde und Speichel, den er einem Blinden auflegt und den dieser in einem Jerusalemer Teich abwaschen soll (Joh 9,6). Dagegen fehlt die Verwendung von Kräutern oder ähnlichem, was wir aus der Praxis der damaligen Zeit vielleicht erwarten würden, völlig. Die Heilungsgeschichten zielen offensichtlich auf etwas anderes: Jesus heilt in der persönlichen Zuwendung und in Gottes Vollmacht. Es geht um die Erfahrung von Vertrauen und Zuwendung, medizinische Aspekte stehen da eher nicht im Vordergrund. Interessant ist aber, dass diese Aspekte bei den frühen Christen schnell an Bedeutung gewonnen haben und die Heilung der Kranken zu einer Kernaufgabe der Gemeinden wurde.

Frage: Können Sie das bitte etwas genauer erklären?

Bieberstein: Die Christen bezogen sich dabei auf den Auftrag, mit dem Jesus die Jüngerinnen und Jünger ausgesandt hatte: Geht, verkündet das Reich Gottes, heilt Kranke und treibt die Dämonen aus! Im Jakobusbrief findet sich dann etwa der Hinweis, dass die Presbyter Kranke zur Heilung mit Öl gesalbt haben, und in nachbiblischer Zeit wurde es regelrecht zu einem Kennzeichen der Christinnen und Christen, dass sie geheilt haben. Auch die Zuschreibung des Evangelisten Lukas als Arzt gehört schon zur frühchristlichen Tradition. Es lässt sich zwar nicht sicher feststellen, ob Lukas wirklich Arzt war, aber diese alte Zuschreibung zeigt sehr deutlich, dass die frühen Christen keinerlei Berührungsängste mit der Medizin hatten. Ganz im Gegenteil: Man kann das Christentum aus dieser Perspektive als Religion der Heilung beschreiben, und zwar der ganzheitlichen Heilung – seelisch und körperlich.

„Ich handle im Sinne Gottes, indem ich verantwortungsvoll mit mir und meinem Nächsten umgehe und die Hilfen in Anspruch nehme, die mir unter anderem die moderne Medizin bietet.“

—  Zitat: Sabine Bieberstein

Frage: Sie hatten vorhin die Bedeutung des Vertrauens bei den Heilungen erwähnt. Das ist ein Aspekt, den wir in Kommentaren von Impfgegnern ebenfalls häufig lesen. Da heißt es dann sinngemäß: Wer nur stark genug auf Gott vertraut, der braucht keine menschengemachte Medizin. Wie stehen Sie dazu?

Bieberstein: Das finde ich eine ungute Verquickung. Diese Haltung stellt für mich eine Herausforderung Gottes dar, in der Art: Ich mache erstmal nichts und warte darauf, dass du mir hilfst. Aber das lässt außer Acht, dass wir als Christinnen und Christen verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten unserer Zeit umgehen sollen. Es geht ja beim Impfen nicht nur um uns selbst, sondern darum, dass wir zum Schutz besonders gefährdete Menschen beitragen, indem wir uns impfen lassen. Wir sind nicht dazu aufgerufen, bewusst Risiken einzugehen, um damit Gottes Hilfe zu demonstrieren. Ich würde Gottvertrauen umgekehrt definieren: Ich handle im Sinne Gottes, indem ich verantwortungsvoll mit mir und meinem Nächsten umgehe und die Hilfen in Anspruch nehme, die mir unter anderem die moderne Medizin bietet. Dabei weiß ich natürlich, dass wir trotz aller medizinischen Fortschritte das Leben nicht in der Hand haben und Menschen trotz Impfung krank werden und sogar sterben können. Mit dieser Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens muss ich umgehen und darf dies im Vertrauen auf Gott tun. Trotzdem: Dass überhaupt so schnell ein Impfstoff gefunden wurde, kann man ja auch als Geschenk Gottes sehen.

Bild: ©picture alliance/dpa/Federico Gambarini

In den vergangenen Monaten wurden vermehrt Impfaktionen auch in Kirchen durchgeführt, etwa im Wiener Stephansdom oder dem Paderborner Dom. Die deutschen Bischöfe haben die Impfung gegen das Corona-Virus in einer gemeinsamen Erklärung als "Verpflichtung aus Gerechtigkeit, Solidarität und Nächstenliebe" bezeichnet.

Frage: Die Verquickung von Glauben und Gesundheit geht zum Teil noch weiter, etwa wenn es heißt, die Betroffenen erkrankten zurecht, weil sie ein sündiges Leben geführt hätten. Solche Kommentare löschen wir dann. Lässt sich Krankheit aus biblischer Sicht als Strafe Gottes interpretieren?

Bieberstein: Nein, das ist eine fatale Fehlinterpretation. Zwar stellen viele biblische Texte einen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen her: Wenn ich ungesund lebe, brauche ich mich über Folgen nicht zu wundern. Aber der Schluss vom Tun zum Ergehen ist nicht umkehrbar. Nicht jede Krankheit kann auf ein entsprechendes Fehlverhalten zurückgeführt werden. Bei der Heilung des Blinden in Joh 9 etwa fragen die Jünger, wer denn nun gesündigt habe, er oder seine Eltern. Und Jesus antwortet: "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden." Man kann jetzt natürlich fragen, ob erst jemand blind geboren werden muss, damit Gott seine Kraft zeigen kann. Aber die Grundaussage weist die Schuldfrage hier klar zurück. Die biblische Botschaft zielt genau in die gegenteilige Richtung: nicht hämisch auf die Kranken und Schwachen zu blicken und zu fragen, was sie falsch gemacht haben, sondern sich ihnen zuzuwenden und ihnen zu helfen.

„Der christliche Auftrag, hilfsbedürftigen Menschen nahe zu sein, darf nicht dahin verdreht werden, dass man sich nicht an gesetzliche Vorschriften hält.“

—  Zitat: Sabine Bieberstein

Frage: Auch dieses Argument wird mitunter so gedreht, dass am Ende Quarantäneverordnungen und Kontaktbeschränkungen als unchristlich dargestellt werden. Taugt Jesus als Vorbild für politische Revoluzzer?

Bieberstein: Ich denke, da muss man differenzieren. Der christliche Auftrag, hilfsbedürftigen Menschen nahe zu sein, darf nicht dahin verdreht werden, dass man sich nicht an gesetzliche Vorschriften hält. Die besonderen Maßnahmen wurden ja gerade eingeführt, um Menschen zu schützen, und auch unter Pandemie-Bedingungen kümmern sich Hunderttausende Pflegekräfte, Besuchsdienste, Seelsorgerinnen und Seelsorger um die Kranken, Hilfsbedürftigen und Einsamen. Den Menschen im pflegerischen Rahmen nahe zu sein, ist ja etwas ganz anderes, als sich nicht an die Regeln zu halten, weil man jetzt Party machen will. Für solche Übertretungen kann man Jesus sicher nicht als Vorbild beanspruchen. Wenn Jesus als Revoluzzer dargestellt wird, vergisst man oft, dass er zu Beginn der Bergpredigt sagt: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen."

Ohne Zweifel hat er viele Konventionen der damaligen Gesellschaft überwunden, etwa im Mahl mit den Sündern oder im Umgang mit Frauen. Das war natürlich revolutionär, aber wir müssen das als Teil seiner Reich-Gottes-Botschaft sehen. Dabei geht es um eine theologische Neuakzentuierung der Tora und nicht um Ungehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen. Deshalb antwortet er auf die Fangfrage nach den Steuern ja auch: "Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" Und wenn ich von Neuakzentuierung der Tora spreche, heißt das gerade nicht, dass Jesus die Tora über Bord geworfen oder das jüdische Erbe abgewertet hätte. Vielmehr hat er als Jude die Tora neu interpretiert, vielleicht anders als manche seiner schriftgelehrten Zeitgenossen, aber völlig im jüdischen Denk- und Diskussionsrahmen. Deshalb darf man sich für antijüdische Klischees keinesfalls auf Jesus beziehen, so wie das in einigen Verschwörungstheorien der Fall ist.

Frage: Die Pandemie stellt die Gesellschaft als Solidargemeinschaft auf eine harte Probe. Auch junge und gesunde Menschen müssen Einschränkungen in Kauf nehmen, um Risikogruppen zu schützen. Lässt sich der Verzicht zugunsten anderer biblisch fundieren?

Bieberstein: Absolut. Ein sehr eindrückliches Beispiel findet sich etwa bei Paulus im ersten Korintherbrief im Zusammenhang mit dem sogenannten Götzenopferfleisch. Dabei handelte es sich um Fleisch von Tieren, die heidnischen Göttern geopfert wurden. Zusammen mit den sogenannten "Starken" in der Gemeinde vertritt Paulus zwar die Meinung, dass man das Fleisch bedenkenlos essen könne, weil es die anderen Götter ohnehin nicht gibt. Aber er sieht auch die "Schwachen", für die dieses Fleisch ein Problem darstellte, weil sie es eben doch nicht unabhängig von den heidnischen Gottheiten sehen konnten. Und er fordert deshalb, in der Gemeinde lieber überhaupt kein Fleisch zu essen, als dadurch die Schwachen in ihrem Glauben zu gefährden. Natürlich ist das ein ganz anderer Kontext, aber die Stelle macht das christliche Verantwortungsprinzip sehr gut deutlich, im Zweifelsfall die eigene Praxis zurückzunehmen, um andere nicht zu gefährden. Auf unsere jetzige Situation übertragen, könnte das zum Beispiel heißen: Ich verzichte lieber auf Freiheiten, als andere zu gefährden.

Von Moritz Findeisen