Pater Nikodemus Schnabel: Es gibt noch andere Leidensfragen als Corona
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Nikodemus Schnabel ist Benediktinerpater der Jerusalemer Abtei Dormitio und Patriarchalvikar für Migranten und Asylsuchende des Lateinischen Patriarchats Jerusalem. Kurz vor Heiligabend gibt er im Interview einen Einblick in das Weihnachtsfest im Heiligen Land – und erklärt, warum er von der Corona-Thematik mittlerweile ein wenig genervt ist.
Frage: Israel war ganz am Anfang der Corona-Pandemie Vorreiter, was das Impfen angeht. Da haben wir alle zu Ihnen ins Land geguckt. Auch das sogenannte "Boostern" der alten Menschen wurde bei Ihnen schon im Sommer begonnen. Fühlt es sich, wenn man dort lebt, auch so fortschrittlich an?
Schnabel: Es kommt natürlich immer auf die Perspektive an. Israel ist ein ganz spannendes Land – oder überhaupt die ganze Region, wenn man noch Palästina mit dazu nimmt, was wir gern Heiliges Land nennen, um es quasi mal aus diesem politischen Kontext zu lösen. Es ist natürlich ein Land voller Sehnsüchte; ein Land, das unfassbar fortschrittlich ist in vielen Bereichen, in anderen Bereichen aber auch nicht so fortschrittlich. Ein Land voller Widersprüche, ein Land, wo man eigentlich jeden Tag so ein Aha-Erlebnis hat, wo man denkt: Okay, wie passt das zusammen?
Und tatsächlich, wenn wir über Corona sprechen, würde ich sagen: Vorsicht vor einer Idealisierung Israels, aber natürlich auch Vorsicht vor einer Arroganz gegenüber Israel, sondern Israel hat versucht, seinen Weg zu gehen, Palästina seinen und so weiter. Und wie alles in dieser Region: Nichts ist einfach, alles ist kompliziert.
Frage: Wie geht es Ihnen denn persönlich an diesem Zeitpunkt der Pandemie?
Schnabel: Meine Perspektive ist jetzt noch einmal eine ganz andere. Ich bin zwar 2003 hier eingetreten, habe sogar vorher 2000/2001 studiert im Theologischen Studienjahr Jerusalem, auf das ich auch immer wieder gerne hinweise. Man kann sich für das nächste Jahr noch bis Ende Januar bewerben unter www.studienjahr.de, wenn diese kurze Werbung erlaubt ist.
2003 bin ich Mönch geworden. Das heißt, ich bin eigentlich schon wirklich lange hier. Und man könnte ja meinen, so ein bisschen hätte ich schon kapiert, wie der Hase hier läuft. Aber ich erlebe noch mal meine Wahlheimat ganz neu. Seit dem 1. September bin ich Lateinischer Patriarchalvikar für alle Migranten und Asylsuchenden. Das heißt, durch diese Brille schaue ich jetzt auf Corona, schaue ich auf das Land, schaue ich auf alles. Und das ist tatsächlich eine Brille, die mir ganz neue Perspektiven eröffnet, weil wir hier von über hunderttausend Menschen reden, die mir anvertraut sind. Migranten aus den Philippinen, aus Indien, aus Sri Lanka, Asylsuchende vor allem aus Eritrea, Äthiopien und anderen Teilen Afrikas.
Ich erlebe das alles natürlich jetzt auch, z.B. wenn es um Impfungen geht, wenn es um solche Fragen geht, durch die Brille dieser Leute. Viele von denen illegal, viele von denen statuslos, viele von denen mit Kämpfen, wo es sehr existenziell wird.
Wo ich sage: Wie geht es mir gerade? Ich würde sagen, ich bin jeden Tag dankbar, dass ich diesen Menschen dienen darf. Und ich werde jeden Tag sehr demütig und erkenne, wie unfassbar privilegiert ich bin, allein durch meine Geburt und meine Staatsbürgerschaft, die ich habe.
Frage: Wie gehen Sie damit um, dass uns das Virus in seinen ganzen Varianten, die jetzt da gerade kommen, nicht loslässt?
Schnabel: Wenn ich ganz ehrlich bin, mich nervt es ein bisschen. Ich durfte jetzt auf Zypern mit dabei sein, als Papst Franziskus dort war. Ich finde, seine große Grundbotschaft war: Europa ist momentan sehr fokussiert auf Fragen des Virus, des Impfens, des Maskentragens, des Abstandhaltens, auf die Frage der Maßnahmen, Lockdown ja/nein. Und es gibt so eine komische Nostalgie. Man will wieder zurück in die gute alte Zeit.
Linktipp: Papst beendet seinen Besuch auf Zypern: Appell für Flüchtlingshilfe
Der Papst besucht ein gespaltenes Land und trifft auf geteilte Erwartungen. Die griechische Seite reklamiert ihn als Anwalt im Zypernkonflikt. Er selbst tritt als Anwalt Entrechteter auf und wird am Ende sehr persönlich.
Was ich wirklich spüre – und Papst Franziskus hat es so wunderbar auf den Punkt gebracht: Diese gute alte Zeit war nicht so gut und toll. Wir hatten schon vor Corona die große Frage des Klimawandels, die große Frage nach Ökumene, die große Frage des interreligiösen Dialogs und natürlich die große Frage der Migration. Über 80 Millionen Menschen auf der Welt sind auf der Flucht. Das ist so ein Punkt. Ich habe das Gefühl, viele wichtige Themen fallen gerade herunter, weil alle Menschen denken: Das Wichtigste auf der Welt ist Corona. Es gibt aber Menschen, die noch ganz andere Leidensfragen haben, die wirklich existenziell kämpfen. Ich will Corona jetzt auch gar nicht herunter reden. Ich möchte auch nicht missverstanden werden. Ich bin selbst auch geimpft und "geboostert" – alles gut. Ich bin da auch in jeder Hinsicht sehr bedacht und achte natürlich mit meinen Leuten auf Abstand und so weiter. Ich nehme Corona ernst, soweit es ernst genommen werden muss. Aber es gibt noch andere Themen. Und es gibt für mich momentan eine Überfixierung – und ich würde sagen: Liebe Europäer, die Probleme, die ihr habt, die hätten gerne meine Leute.
Frage: Noch relativ zu Pandemiebeginn, im Mai 2020, waren Sie in einer Art Corona-Exil, könnte man sagen, in einem belgischen Kloster, im Benediktinerpriorat Saint-André de Clerlande, um dort Französisch zu lernen. Dann ging es für Sie erst mal nicht zurück. Welche Erfahrung haben Sie gemacht?
Schnabel: Das war eine Erfahrung, von der ich jetzt erst mal sehr profitiere. Ich habe ja auch eine große Gruppe frankophoner Afrikaner. So gesehen hat diese Zeit sich sehr ausgezahlt. Ich brauche Französisch tatsächlich im täglichen Leben auch für meine Arbeit. Es war eine sehr spannende Erfahrung. Das war durchaus mal angedacht. Der Lateinische Patriarch hat schon mal angedeutet, dass er mich gerne auch an seiner Seite hätte. Die Frage auch: Was könnte meine Aufgabe sein in Jerusalem? Aber natürlich, ich wusste damals nicht – und ich glaube er auch nicht, dass er mir die jetzige Position geben wollte. Aber Französisch lernen war durchaus Thema, aber eher im Sinne von drei oder vier Wochen.
Aus diesen geplanten drei bis vier Wochen sind dann fünf Monate geworden, weil der Flughafen Tel Aviv einfach zu war. Ich bin in dieses belgische Kloster gekommen, um eigentlich mal zu eruieren: Was gibt es für Möglichkeiten für Sprachkurse? Mit mir ist ein Mönch frisch aus Bergamo gekommen, damit wurde das ganze Kloster unter Quarantäne gestellt. Nach der Quarantäne war der Flughafen Tel Aviv zu. Da hat mein Abt damals gesagt: Bleib, wo du bist!
Ich hatte einen Koffer für eine Woche. Ich war nicht vorbereitet auf einen längeren Aufenthalt. Aber gut, ich habe die Chance genutzt. Meinem Französisch hat es gutgetan. Es war eine unglaublich privilegierte Situation, weil Belgien da einen sehr harten Lockdown hatte, nur dieses Klosters ist mitten im Wald in Wallonisch-Brabant, und ich durfte jeden Tag lange Waldspaziergänge machen – ohne Maske, weil ich garantieren konnte, dass kilometerweit kein anderer Mensch in meiner Nähe ist. Ich habe dann viele französische Podcasts gehört, über online Französisch gelernt, mit den Mönchen französisch gebetet und gesprochen. Es war eine sehr gute, intensive Phase und ich muss sagen, auch im Hinblick auf diese Lockdownphase war das schon auch Gnade, den Lockdown dort erleben zu dürfen.
Frage: Als es dann an die Universität der Benediktiner in Rom ging, waren Sie aber ja wieder unter Leuten …
Schnabel: Genau. Ich bin ja bis heute auch mit zuständig für das Theologische Studienjahr. Ich bin dort der Delegierte von Sant'Anselmo in Rom, unserem akademischen Träger, und auch der Studienpräfekt des Studienjahres und lehre Ostkirchenkunde. Und die große Frage war: Kann das Studienjahr stattfinden? Grund war eben Corona 2020. Wir haben im Mai online ausgewählt, dann haben wir gesagt: Wir verschieben mal, statt des normalen Sommerbeginns machen wir einen Herbstbeginn, statt Ende Ostern Ende Pfingsten. Dann hat sich aber abgezeichnet, das bringt nichts, auf Zeit zu spielen. Wir müssen irgendwo gucken, ob wir ein Ausweichquartier finden. Tatsächlich sah es im Sommer in Italien sehr gut aus – und unsere Mutterhochschule hat gesagt: Wir haben Platz, weil unsere ganzen Studenten aus Lateinamerika und aus Asien gar nicht nach Europa reinkommen. Sie haben uns dann wirklich Exil geboten.
Die Idee war dann: Wir fangen mal in Rom an und sobald es möglich ist, siedeln wir über nach Jerusalem. Auch das war dann etwas blauäugig geplant. Wir haben in Rom geendet, wir sind niemals übergesiedelt mit dem Studienjahr. Es wurde quasi ein römisches Exiljahr, was durchaus aber auch sehr spannend war. Es hat die Verbindung zu unserer Mutterhochschule noch mal sehr gestärkt. Tatsächlich war es in Rom unter diesen Bedingungen durchaus auch eine sehr gnadenvolle Zeit. Vielleicht einer der Höhepunkte: Wir hatten noch eine Privataudienz bei Papst Franziskus, die man, glaube ich, in dieser Form und dieser Länge nicht so einfach bekommt. Aber Corona hat dann noch manches verunkompliziert, weil einfach niemand reinkonnte, niemand rauskonnte.
So gesehen war das auch ein sehr kostbares Jahr, auf das ich voller Dankbarkeit schaue. Ich durfte dort Italienisch lernen. Auch das ist eine Sprache, die für mich sehr hilfreich ist in meiner neuen Aufgabe. Also, ich bin sehr versöhnt mit dieser ganzen Corona-Zeit, was mich persönlich betrifft. Aber natürlich, was ich spüre, ich war ja mit ganz vielen Menschen in Kontakt. Ich habe auch über Instagram sehr viel gemacht, gerade in Belgien – und habe dann auch gespürt, wie viele Menschen mich angeschrieben haben und wie viele Menschen wirklich leiden unter der Situation, unter Vereinsamung, unter Ängsten um ihre Angehörigen, Ängsten um Arbeitskollegen. Dann das einsame Sterben, nicht dabei sein zu können, wenn Freunde sterben und dann beerdigt werden, ohne dass man präsent sein kann.
Das heißt, ich habe natürlich, obwohl ich für mich persönlich ein sehr gutes Leben hatte, in dieser Zeit auch sehr viel gebetet für Menschen, die sich mir gegenüber geöffnet haben. Und da habe ich auch schon mitbekommen, was diese Pandemie anrichtet, Menschen herausfordert und Menschen manchmal fast auch zerbrechen lässt.
Frage: Sie sind jedenfalls mehr rumgekommen als Menschen, die nicht ins Ausland reisen konnten. Sie waren in mehr Ländern als alle, die zu Hause festsaßen. Aber auch das ist natürlich ein Privileg, reisen zu können. Sie sind Seelsorger für die Migranten und Asylsuchenden, offiziell heißt es Patriarchalvikar. Sie sind für das Lateinische Patriarchat von Jerusalem tätig. Wie kann für diese Menschen, die Sie begleiten, jetzt Weihnachten werden?
Schnabel: Da kann man die Frage ja umgekehrt stellen: Also, ich sage mal, ich hatte in meinem Leben noch nie so wenige Glaubenszweifel wie in meiner neuen Aufgabe. Es ist eine enorm große Gruppe. Es sind über 100.000 Menschen mit verschiedensten Sprachgruppen und verschiedensten Riten: eben "meine" Ukrainer – byzantinischer Ritus, Teile "meiner" Inder – syromalabarischer, ostsyrischer Ritus, "meine" Eritreer und Äthiopier – Ge'ez-Ritus. Das ist eine Fülle mit all ihren Traditionen. Auch die Filipinos, vor allem Filipinas, 90 Prozent sind ja Frauen meines Vikariats, die dann auch quasi ganz speziell die neun Tage vor Weihnachten eine Novene mit Nachtmessen gefeiert haben. Also all das ist sehr spannend und sehr bereichernd – das muss ich sagen.
Mit was ich innerlich kämpfe, ist tatsächlich mit der Menschheit: Was wir Menschen anderen Menschen antun und wie gut wir perfektioniert haben, gewisse Sachen auch nicht wissen zu wollen. Diese modernen Sklaven und diese Menschen, die wir unsichtbar gemacht haben, die sich auch selbst unsichtbar machen, weil sie Angst davor haben, abgeschoben zu werden. Das ist etwas, womit ich sehr ringe. Womit ich nicht ringe, ist tatsächlich die Beziehung zu Gott und dieser Menschen mit dem Glauben. Das ist unfassbar, jeden Gottesdienst, den ich mit diesen Menschen feiern darf – da ist eine Intensität, eine Innerlichkeit, eine Freude. Oft muss ich mit Tränen kämpfen, stehe vorne am Altar und denke mir jedes Mal: Diese Menschen sind zum Teil Opfer von Menschenhandel geworden, haben Folter erlebt, wurden misshandelt oder auch die Migrantinnen und Migranten, die sich wirklich für einen Hungerlohn selbst ausbeuten und alles nach Hause schicken für ihre Familien, all diese Menschen, die ein Leben haben, was auch unvorstellbar gezeichnet ist, was man auch sieht, wenn sie einem die Hände entgegenstrecken bei der heiligen Kommunion oder wenn man in die Gesichter schaut. Das sind gezeichnete Menschen.
Aber diese Menschen, obwohl sie so ein hartes Leben haben, haben so einen Glauben, so eine Nähe, wo ich sage: Ich Armseliger – als Mönch, Priester und promovierter Theologe und was ich nicht alles bin, bin ich meilenweit entfernt von dieser Beziehung zu Gott, die diese Menschen haben. Und ich fühle mich jedes Mal so beschenkt und jedes Mal auch fast so demütig, wo ich denke: Wie armselig ist mein Glaube gegenüber dem Glauben dieser Menschen, die eine Intensität ihres Glaubenslebens haben, was ich einfach nur überwältigend finde. Deswegen fühle ich mich in meiner neuen Position eigentlich mehr beschenkt.
Frage: Das heißt, das bereichert Sie auch in Ihrem Glauben?
Schnabel: Absolut! Das kann ich wirklich sagen. Ich kenne Phasen der Dunkelheit meines Glaubens, wo ich auch mit Gott gerungen und an ihm gezweifelt habe. Also ganz ehrlich, das Problem ist nicht Gott. Das Problem ist nicht der Gott, an den wir glauben, der an Weihnachten Mensch wurde, – einer von uns, der ganz genau weiß, was es bedeutet, Hunger zu haben, Durst zu haben, Kälte zu erleiden und so weiter. Gott weiß wirklich sehr genau, wie es uns Menschen geht. Das ist nicht das Problem. Das Problem sind wir Menschen und wie wir mit anderen Menschen umgehen, weil ich ja nicht von Leid rede, das irgendwie aus dem Nichts kommt, wo man sagt: Wie lässt Gott das zu? Das ist kein gottgemachtes Leid, das ist Menschenleid, weil wir Menschen meinen, wir können Menschen für einen Hungerlohn ausbeuten und sie quasi für unseren Luxus sorgen lassen, dass wir für ein paar Pfennig die Drecksarbeit delegieren an andere Menschen, die wir eben nicht auf Augenhöhe behandeln, nicht als Mitmenschen.
„Und in den Fürbitten wird dann für die ganze Menschheit gebetet. Aber ich frage mich: Ist das auch im Herzen angekommen, dass diese Menschen unsere Schwestern und Brüder sind, die dieselbe Taufe haben wie wir?“
Ich kämpfe momentan sehr stark auch mit der Glaubwürdigkeit von Gläubigen. Wir sagen immer so schön: Wir sind alle Schwestern und Brüder. Wo ich dann wirklich gerne rückfragen möchte: Wo ist denn das konkret gelebt? Weil die sogenannte "illegale Putzfrau" im Süden Tel Avivs hat dieselbe Taufe wie der sogenannte Infiltrant aus Eritrea – genau dieselbe wie ich. Und in Gottes Augen sind wir gleich. Aber wir Menschen behandeln mich anders als die Philippiner und den Eritreer. Und das auch durchaus in der Christenheit. Das ist der Punkt, wo ich dann sage: Liebe Christen da draußen, ich würde euch gern alle mal rückfragen. Das klingt immer alles so toll mit "Wir sind alle Geschwister und Schwestern und Brüder" – und was nicht alles. Und in den Fürbitten wird dann für die ganze Menschheit gebetet. Aber ich frage mich: Ist das auch im Herzen angekommen, dass diese Menschen unsere Schwestern und Brüder sind, die dieselbe Taufe haben wie wir? Und da würde ich sagen, da ist noch ganz viel Wegstrecke vor uns.
Frage: Diese Ungerechtigkeiten gibt es nicht erst seit gestern, das Leid auch nicht erst seit letztem Jahr. Für uns ist es das zweite Jahr Weihnachten, wo wir das Fest so feiern: mit Vorsicht mit Blick auf die Menschen, die wir treffen oder in Gottesdiensten müssen wir zum Beispiel vorsichtig sein. Schränkt das das Weihnachtsfest in seinem Sinn ein?
Schnabel: Nein, überhaupt nicht, weil ich sagen würde: Weihnachten ist ja dieser große Gott, der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, wie wir beim Großen Glaubensbekenntnis bekennen. Dieser Unfassbare macht sich klein, wird einer von uns und liefert sich dieser "conditio humana" aus, diesem Menschsein, was bedeutet, auch erst mal die körperlichen Bedürfnisse zu erleben, aber eben auch seelische Bedürfnisse. Auf Zypern durfte ich auch am Lazarus-Grab sein. Da ist mir das noch mal so bewusst geworden, dass Jesus ja weint. Jesus weint um seinen Freund Lazarus, der gestorben ist. Das heißt, unser Gott kennt auch dieses Leid: Die Trauer um einen Menschen, den man verliert. Er kennt dieses nicht da sein Können, wo man gern sein möchte. Und das finde ich so stark, dass das in der Bibel ja wirklich eine ganz, ganz zentrale Botschaft ist. Eine ganz zentrale Geschichte.
Aber ich denke, das ist das Wunderbare an Weihnachten, wo man vielleicht noch mal klar machen kann: Unser Gott weiß um uns und kann mit uns fühlen. Und vielleicht sollten wir das auch zulassen, auch noch mal unser Gottesbild zu überprüfen. Dass Gott der ist, der uns näher ist als wir selbst und um unseren Gefühlshaushalt weiß, um unser Ringen weiß, um unsere körperlichen Bedürfnisse weiß, um all das weiß. Und dass wir eigentlich noch mal mehr Mensch werden sollen und vielleicht auch genau diese emotionalen Ressourcen neu entdecken – gerade jetzt im deutschen Sprachraum. Nicht nur die rationalen Ressourcen, Glaube ist nicht nur eine intellektuelle Auseinandersetzung, sondern auch dieses emotionale Zulassen und eben auch sich das einzugestehen, dass man Menschen vermisst, dass man einsam ist, dass man sich gern jetzt Gemeinschaft wünschen würde – und das aber auch ins Gebet tragen zu dürfen.
Frage: Sie haben von den Menschen gesprochen, mit denen Sie zusammen leben, zusammen arbeiten. In Jerusalem leben Juden, Muslime, Christen, ganz viele Menschen verschiedener Religionen und Ethnien auf engstem Raum zusammen. Wie können wir uns vorstellen, wie die Festtage zu Weihnachten in Jerusalem begangen werden?
Schnabel: (lacht) Relativ unspektakulär, weil die große Mehrheit eben Juden und Muslime sind. Das heißt, diese zwei Prozent Minderheit der Christen kann man sich im Vergleich vielleicht vorstellen wie Chanukka in Deutschland. Es gibt dann ein paar Chanukkia, das kommt in den Nachrichten, man weiß, die Juden feiern da was, aber die wenigsten haben irgendwie jüdische Freunde. Und so kann man sich auch vorstellen: Klar, die Kirchtürme sind geschmückt. Es gibt dann auch in Jaffa, in Jerusalem und auch in Bethlehem immer irgendeinen Baum. Man kriegt schon irgendwie mit, diese christliche Minderheit feiert was. Aber es wird ja noch erschwert, dass die Christen hier an drei verschiedenen Daten Weihnachten feiern. Also wir haben das westliche Weihnachten am 25. Dezember. Wir haben das östliche Weihnachten am 7. Januar, was eben der 25. Dezember im julianischen Kalender ist. Und wir haben hier in Jerusalem den 19. Januar, das armenische Weihnachten, weil die Armenier noch die einzigen Christen sind, die traditionell am 6. Januar Weihnachten feiern. Aber weil sie hier auch den alten Kalender verwenden, ist dann hier bei uns der 19. Januar. Das heißt, Weihnachten ist quasi noch mal an drei verschiedenen Daten. Diese zwei Prozent Minderheit haben also sogar noch drei verschiedene Festtage.
Man kann sagen, die Juden nehmen das wahr. Da gibt es irgendwie was. Wenn man dann auch die Nachrichten anschaltet, gibt es dieses Bild der Welt: Viele denken an Weihnachten, da ist dann eben dieser Weihnachtsmann, genau dieser Mensch da im roten Bademantel mit der Zipfelmütze. Das muss ich dann manchmal auch erleben. Zum Beispiel habe ich mit über tausend Indern im Advent eine Fußprozession gemacht. Von Jerusalem nach Bethlehem hat jeder dann auch so eine Weihnachtsbommelmütze auf gehabt. Da dachte ich: Na ja ... Aber gut, das Klischee wird dann internalisiert. Man denkt dann, das gehört irgendwie dazu, weil natürlich alle hier auch Kopfbedeckungen haben, also eine Kopfbedeckung ist hier auch etwas sehr Religiöses. Da haben halt unsere Inder entschieden: Gut, dann ist das jetzt die christliche Kopfbedeckung. Es hat viele skurrile Blüten, aber ich liebe es total, weil das Weihnachten dann natürlich sehr intensiv ist.
Es ist in dem Sinne quasi jetzt nicht kommerzialisiert und es ist natürlich nicht so verkitscht, sondern man kann Weihnachten gut aus dem Weg gehen, wenn man will, und kann das durch die Liturgie erleben. Zum Beispiel ist ein Advent wirklich ein Advent, das ist wirklich eine stille Zeit. Chanukka ist jetzt rum. Das heißt, unsere jüdischen Geschwister haben jetzt quasi das Feiern eingestellt. Zu Chanukka gibt es ja immer diese Krapfen, diese fette Speise, und die Kerzen – das ist auch noch mal so eine sehr schöne Zeit, das ist jetzt aber auch um. Das heißt, jetzt ist wirklich Advent und eine ruhige Zeit. Unsere jüdischen und muslimischen Freunde gehen einfach ihrer Arbeit nach – und das hat was.
Also, meine Sehnsucht, im Advent oder an Weihnachten in Europa zu sein, hält sich sehr in Grenzen, zumal, das muss ich noch mal sagen: Wir sind der Originalschauplatz. Ich darf an Weihnachten in Bethlehem selbst sein. Da muss ich sagen, die ganze Sehnsucht der Welt geht ja zu dem Ort, wo ich sein darf. So gesehen bin ich da auch wieder privilegiert.
Frage: Wie feiern Sie persönlich die Festtage?
Schnabel: Ich habe mich immer noch nicht entschieden, obwohl es jetzt ganz nah steht, weil ich einfach die Qual der Wahl habe: Da ist der Mönch Nikodemus, der mit seiner Gemeinschaft feiern kann. Also sicher ist, dass ich am zweiten Weihnachtsfeiertag auch bei uns der Eucharistie vorstehen werde. Dann gibt es natürlich auch den Patriarchalvikar, wo der Patriarch sagt: Na ja, ich will dich irgendwie auch dabeihaben in Bethlehem selbst, wenn er Gottesdienst feiert.
Und es gibt natürlich meine ganzen Migranten- und Asylsuchenden-Gemeinden, die natürlich am liebsten alle wollen, dass ich mit ihnen feiere. Das heißt, so gesehen wird es wahrscheinlich eine Mixtur. Ich erahne aber sehr viel Liturgie und keinen Schlaf!
Frage: Sie haben von den Konflikten gesprochen, die sich da ja dann auch ergeben, religiös oder politisch oder aus welchen Gründen auch immer. Nehmen Sie das mit in das Weihnachtsfest, in die Liturgien, die Sie feiern?
Schnabel: Absolut! Andauernd. Ich muss wirklich sagen, das ist das, was mich aber auch schon immer begleitet hat. Das ist ja das Schöne am Christentum – ich muss mich nicht selbst erlösen. Das ist schon mal das Gute. Wir sind ja nicht irgendeine Religion, wo ich mit Selbstoptimierung mich irgendwie selbst befreie, sondern ich habe einen Erlöser und dessen Geburt feiern wir ziemlich bald. Das ist erst einmal das Befreiende. Das heißt, ich darf mich auch freimachen davon, alles selbst bewältigen zu müssen. Ich beobachte ja, dieser Konflikt macht Menschen entweder aggressiv, depressiv oder was ich gerade bei sehr vielen intelligenten Menschen erlebe, zynisch.
Und ich finde, es ist unglaublich, ich sage mal, eine Art Seelen-Hygiene, wirklich diese Konflikte, auch was man erlebt, das Angespucktwerden, den Hass, natürlich auch den Hass auf meine Leute, die Diskriminierung und all das, was ich erlebe, auch wenn ich Seelsorge- und Beichtgespräche habe – die gehen natürlich unter die Haut, das sind alles heftigste Sachen – dass ich all das abgebe. Es geht nicht um mich. Ich bin hier nicht der Guru dieser ganzen Leute. Ich bin einfach nur ein Mitgetaufter, der den besonderen Auftrag hat, für sie Seelsorger zu sein, ihnen beizustehen, mit ihnen Sakramente zu feiern, das Wort Gottes zu verkünden. Aber letztendlich, wer der Retter aller ist, der Erlöser ist und wer die Welt in der Hand hat, ist jemand anderes. Dessen Geburt feiern wir an Weihnachten.
Das finde ich unglaublich wichtig und das ist das, was ich auch als Mensch schon eingeübt habe in frühen Noviziatsjahren, in der Komplet, im Nachtgebet, den Tag und alles, was war, vor Gott hinzulegen und abzugeben. Und dann neu anzufangen, weil er unser Erlöser ist.
Frage: Pater Nikodemus, was gibt Ihnen als Benediktinermönch, bei Ihrer Arbeit in Jerusalem und auch angesichts der Konflikte – bei allem Leid, das wir gerade beschrieben haben – und der Corona-Pandemie, die noch obendrauf kommt, Hoffnung?
Schnabel: Wie wunderbar die Geschwister im Glauben sind, für die ich da sein darf. Wenn ich dann einen afrikanischen Gottesdienst mit Trommeln erlebe, einen philippinischen Gottesdienst mit ihren Tänzen, einen indischen Gottesdienst mit ihrer Art und Weise, musikalisch und tänzerisch Gottesdienst zu feiern. Da denke ich: Wir glauben alle dasselbe, aber das ist so genial verschieden von der Art der Musik, von der Art, Liturgie zu feiern, von der Atmosphäre. Und ich denke: Wie wunderbar bunt ist die Menschheit und wie großartig ist eigentlich die Art und Weise, seinen Glauben feiern und leben zu können! Ich habe das Gefühl, das ist so ein Horizont-Booster – und das macht mir richtig Hoffnung und Freude, wo ich sage: Hey, Mensch sein ist schon schön!