Standpunkt

Zum neuen Jahr ein neues Ich? Kinder Gottes haben das nicht nötig

Veröffentlicht am 03.01.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Pünktlich zum neuen Jahr flutet der Slogan "New year, new me" die sozialen Netzwerke. Doch kann und soll man sich tatsächlich neu erfinden? Theresia Kamp stellt dem Social-Media-Slogan eine christliche Perspektive entgegen.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Selbst in unsicheren Zeiten gibt es Konstanten. Wie jedes Jahr flutet der Slogan "New year, new me" zuverlässig den Social-Media-Feed. Ein verheißungsvolles Versprechen: Die Uhr springt am 31. Dezember auf Mitternacht, und ich erfinde mich komplett neu.

Auch in den Kirchen hört man in diesen Tagen von einem neuen Ich. "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden", heißt es im berühmten Johannesprolog, der erst gestern wieder im Gottesdienst gelesen wurde. Das christliche "new me" heißt, Kind Gottes zu sein. Statt einer jedes Jahr neu zu entwickelnden Identität steht hier also eine immer schon gegebene Zusage. Der Bibeltext erinnert daran, diese Existenz bewusst zu leben und zu vertiefen.

Dass ich immer schon Kind Gottes bin, bedeutet nicht, dass ich mir keine Ziele mehr setze. Im Gegenteil gibt mir die Erfahrung, bedingungslos angenommen und geliebt zu sein, Kraft und Mut für mein Leben. Wenn ich darauf vertrauen kann, dass Gott an meiner Seite ist, relativieren sich Schwierigkeiten und die Meinungen anderer. Selbst, wenn ich scheitern sollte, bin ich nicht allein.

Die glitzernde Social-Media-Welt dagegen kann ganz schön unbarmherzig sein. Hier zählt, wer mit seinem neuen Ich "voll durchzieht". Wer Schwäche zeigt – und sei es nur eine Schwachstelle seines Körpers – kann immer noch mit hämischen Kommentaren rechnen. Und noch vor der Meinung anderer gerät die oder der Einzelne leicht in eine Abwärtsspirale aus immer neuen, strengeren Vorsätzen – Sportlich sein! Abnehmen! Positiv denken! – und der Enttäuschung darüber, dass es wieder nicht geklappt hat.

In einer Zeit des Relevanzverlustes der Kirchen ist das eine Botschaft, die der Welt wirklich etwas zu sagen hat: Du musst kein neues Ich werden, um endlich anderen oder auch nur dir selbst zu gefallen. Wenn deine Neujahrsvorsätze nur bis übermorgen halten, bist du nicht weniger wert. Du bist angenommen und geliebt, so wie du bist.

Von Theresia Kamp

Die Autorin

Theresia Kamp hat Theologie und Romanistik studiert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und schreibt regelmäßig für verschiedene christliche Medien.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.