Weiter Raum: Bonner Münster wagt Begegnung mit moderner Kunst
Weite zählt nicht unbedingt zu den ersten Assoziationen im Zusammengang mit romanischer Architektur. Beim Stichwort Romanik denken die meisten eher an gedrungene und festungsartige Bauten wie in der Romanverfilmung "Der Namen der Rose" – und an das dazugehörige düstere und furchteinflößende Kirchenbild. Dass eine romanische Kirche aber auch eine ganz andere Wirkung haben kann, beweist das frisch sanierte Bonner Münster.
Betritt man die im elften Jahrhundert erbaute Basilika, so öffnet sich neuerdings ein weiter, heller Raum: Die eigentlich wuchtigen Pfeiler scheinen beinahe ihr Gewicht verloren zu haben, die in frischer Farbpracht leuchtenden Muster der Kreuzrippen verleihen dem Bau eine ungeahnte Leichtigkeit. Der ganze Raum erstrahlt in warmem Licht. Nicht nur diejenigen, die das Münster aus der Zeit vor der Renovierung als eher niedrig und dunkel in Erinnerung haben, dürfte der neue Raumeindruck überraschen und in seinen Bann ziehen: So hell und weit kann Romanik sein.
Der säkularen Gesellschaft die Hand reichen
An Weite gewonnen hat die Bonner Hauptkirche aber auch im übertragenen Sinne. Nach mehrjähriger Innensanierung öffnete sie Ende vergangenen Oktobers nicht nur für die Gläubigen erneut ihre Tore, sondern schuf zugleich Raum für eine bemerkenswerte Kunstausstellung: Unter dem Titel "Licht und Transparenz" stellen fünf zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern ihre Werke aus. Für die Dauer von drei Monaten – noch bis Ende Januar – sind die Kirchenbänke farbigen Skulpturen und die Heiligenfiguren abstrakten Gemälden gewichen. "In einer Zeit der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung und Sprachlosigkeit reicht es nicht aus, eine Kirche 'nur' zu restaurieren – Kirche muss sich auseinandersetzen", erklärt Stadtdechant Wolfgang Picken die Entscheidung, mit der Ausstellung eine Hand Richtung säkularer Gesellschaft auszustrecken.
Über vier Jahre war die Basilika sanierungsbedingt geschlossen, mehr als doppelt so lang wie ursprünglich angenommen. Seit dem Sommer 2017 wurden die Innenwände neu verputzt und gestrichen, die Wandgemälde gesäubert und die byzantisierende Ausmalung aufgefrischt. Durch die gereinigten Fenster dringt wieder Tageslicht in die hohen Gewölbe, die barocken Alabasteraltäre leuchten nach einer aufwändigen Laserbehandlung in ihrem ursprünglichen, mystischen Schimmer. Das Münster hat eine komplett neue elektrische Anlage bekommen und die große Klais-Orgel wird zurzeit generalüberholt und soll zu Ostern wieder in vollem Werk erklingen.
Maßgeblich verantwortlich für den gewandelten Raumeindruck ist das neue Lichtkonzept, das ganz auf indirekte Beleuchtung setzt. Die verdeckten Strahler tauchen die Kirche in gleichmäßiges Licht und betonen ihre architektonische Struktur. So tritt die Raumintention der romanischen Baumeister wieder deutlicher hervor: die zum hellen Obergaden strebenden Wände ebenso wie die aufsteigende Gliederung der Kirche zum golden funkelnden Hochchor – Sinnbild des sicheren Ziels allen irdischen Lebens.
Es bröckelt – nicht nur an der Statik
Für das Auge größtenteils unsichtbar, aber der eigentliche Hauptgrund für die langen Bauarbeiten ist die statische Grundsanierung des Münsters. So bedurfte das Dach einer Rundumerneuerung und die Wände des Mittelschiffs wurden durch Titanarmierungen verstärkt. Wegen eindringender Feuchtigkeit müssen in den Außenmauern bis zu 80 Prozent der Steine ausgetauscht werden – eine Arbeit, die noch einige Zeit andauern wird. "Letztlich ist eine Fehleinschätzung des Historismus dafür verantwortlich, dass die Münsterbasilika nach und nach zu einer Replik wird", erklärt Picken. Dem Architekturideal des 19. Jahrhundert entsprechend, habe man von historischen Gebäuden den Putz entfernt, um sie altertümlicher erscheinen zu lassen. Was nie dem Originalzustand entsprach, führte dazu, dass die offenliegenden Steine seitdem ungeschützt der Witterung ausgesetzt sind. Zuletzt bröckelte das Münster deshalb bedenklich vor sich hin.
Den Widrigkeiten der Umwelt trotzen zu müssen, das könnte ebenso gut als überkommenes Bild der Kirche als Bollwerk gegen die Moderne durchgehen. Dem versucht Stadtdechant Picken mit der Ausstellung einen Kontrapunkt entgegenzuhalten: "Wir können uns nicht auf dem Alten ausruhen. Wir müssen auch äußerlich zeigen, dass sich Kirche öffnet – für Begegnung, für Dialog, für Auseinandersetzung, für Veränderung." Und diese Einladung wird angenommen: Knapp 70.000 Besucher hat die Ausstellung bereits in den ersten sechs Wochen angelockt. Zu den Stoßzeiten am Wochenende hat man das Gefühl, ein unsichtbarer Sog ziehe die Menschen regelrecht vom belebten Marktplatz ins Innere des wiedereröffneten Münsters.
Als es um die Planung der Ausstellung ging, war Picken zunächst besorgt, ob namhafte Künstler sich heute überhaupt noch auf eine Zusammenarbeit mit der krisengeschüttelten Kirche einlassen würden. Umso größer war die Freude des Geistlichen, dass sich die angefragten Persönlichkeiten nicht nur ohne Zögern bereit erklärten, sondern sich mit großem Engagement und Einfühlungsvermögen an der Ausstellungskonzeption beteiligten. Monica Bonvincini, Anthony Cragg, Heinz Mack, Mariele Neudecker und Gerhard Richter steuerten ausgewählte Exponate ihres Schaffens bei und setzten diese auf eindrucksvolle Weise in Beziehung mit dem Kirchenraum.
Kuratiert wurde die Ausstellung von dem Kunsthistoriker und TV-Moderator Walter Smerling. Gerade weil die Kunst die Grenzen längst gesprengt habe, die ihr einst durch ihre Bindung an die Kirche auferlegt waren, könne sie heute mit einer eigenen Mission zu ihr zurückkehren, erklärt der Vorsitzende der Bonner Stiftung für Kunst und Kultur. "Die Kunst unserer Zeit kommt in die Kirche nicht als Bittstellerin. Nicht als Lehrmeisterin. Und auch nicht im Gestus der Überlegenheit. Sie kommt, wie sie ist. Und sie bietet uns etwas an: Nämlich eine Befassung mit der Welt auf eine Art und Weise, wie sie uns kein anderes Medium ermöglicht. Kunst lässt uns hinter die Mauern blicken. Hinter die Geschehnisse. Sie reißt nieder, was uns einengt – in unserem Denken und in unserem Fühlen", so Smerling.
Kunst als Einladung zum Perspektivwechsel
Am unmittelbarsten lässt sich dieses Hinter-die-Dinge-blicken an den Skulpturen des englischen Bildhauers Anthony Cragg erleben. Seine matt schimmernden Holzplastiken haben ein fast organisches Aussehen, entziehen sich mit ihren dynamischen Rundungen aber jeder Konkretion. Exemplarisch zeigt das die mehrere Meter hohe Skulpturengruppe "Points of view" (Titelbild), die den Besucherinnen und Besuchern gleich beim Betreten der Basilika ins Auge sticht. Die blauen Stelen stören die neu geschaffene Sichtachse zum frisch renovierten Stadtpatronealtar – weshalb Stadtdechant Picken zunächst gegen den zentralen Aufstellungsort im Mittelschiff war. Doch Cragg konnte ihn überzeugen: Die Kirche sei oft zu konkret – die Bilder der Heiligen, die Darstellungen ihres Martyriums –, stattdessen gehe es heute darum, die Menschen zum Perspektivwechsel einzuladen, ihnen die Bedeutungsoffenheit der Wirklichkeit zu zeigen. So lassen die "Points of view" je nach Betrachtungswinkel neue Gesichter auftauchen und verschwinden, verdecken Teile des Sakralen und heben es gleichzeitig hervor.
Auf abstraktere Weise setzen sich die Gemälde von Heinz Mack und Gerhard Richter mit dem Verhältnis von "Licht und Transparenz" auseinander. Macks monumentale Farbstudien lösen das unsichtbare Licht in seine Bestandteile auf, warme Gelb- und Orangetöne treten in Kontrast mit grellem Türkis und schattigem Blau. Richters zartes Kerzen-Bild, das bereits aus wenigen Metern Entfernung einer Fotografie zum Verwechseln ähnelt, stellt die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Künstlichkeit. Trotz ihrer stilistischen Fremdheit fügen sich die Gemälde fast nahtlos in den romanischen Raum ein und ergänzen die religiösen Wandgemälde.
Einen bewussten Gegenpol zur warmen Atmosphäre des Kirchenraums bildet die Lichtinstallation der italienischen Künstlerin Monica Bonvicini: Knapp 20 Neonröhren hängen an langen Kabeln senkrecht von der Decke und tauchen das linke Querschiff in grellweißes Licht. "StripLight" heißt das Werk und macht auf anschauliche Weise deutlich, dass Licht auch die unangenehme Eigenschaft hat, Verborgenes zu Tage zu bringen. In diesem Sinne will Picken "Licht und Transparenz" nicht nur als wohlklingenden Ausstellungstitel verstanden wissen, sondern vor allem als selbstkritischen Handlungsauftrag der Kirche. Dass sich die Bonner Münsterpfarrei mit ihrer Eröffnungsausstellung dem Blick der Stadtöffentlichkeit aussetzt, ist ein symbolischer, aber bemerkenswerter Schritt in diese Richtung.