Plädoyer für eine Impfpflicht-Debatte ohne soziale Spaltung
Die Corona-Krise beschert uns neben dem damit verbundenen unendlichen menschlichen Leid ein sozialethisches Dilemma nach dem anderen. Aktuell auf dem Plan ist die Frage nach der Impfpflicht, nicht zuletzt hervorgerufen durch die massive vierte Pandemie-Welle, die Omikron-Welle, die Ankündigungen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sowie die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates.
Die Diskussion ist hoch explosiv. Das Dilemma: Eine Impfpflicht verspricht besseren Schutz gegen die weitere Ausbreitung der Covid-Varianten. Damit werden wohl Leben gerettet und Notstände wie eine Triage in Krankenhäusern reduziert oder vermieden. Das aber ist zugleich teuer erkauft. Denn es geht nicht ohne einen Eingriff in grundrechtlich gesicherte Freiheiten. Dabei gibt es eine Reihe massiver Bedenken gegen eine Pflicht. Öffentliche Proteste gegen solche Zwangsmaßnahmen werden lauter und radikaler.
Für die Abwägung zur Impfpflicht braucht es gute Argumente
Was also ist zu tun? Die Pflicht mit Gewalt durchzusetzen scheint ebenso wenig zielführend zu sein wie die Hoffnung darauf zu setzen, dass einfach alles gut wird. Es braucht für die Abwägung zwischen Ja und Nein zur Impfpflicht und zu deren Konkretisierung vielmehr gute Argumente bei sozialer Befriedung.
Der Deutsche Ethikrat ist in unserer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich die richtige Adresse für Empfehlungen, die Auswege aus dem Dilemma weisen. Er genießt hohes Ansehen in Gesellschaft und Politik. Seine am 22. Dezember vergangenen Jahres publizierte Ad-hoc-Empfehlung diskutiert Pro- und Contra-Argumente und schließt mit drei Positionen. Vier Mitglieder votieren gegen eine Ausweitung der bereichsbezogenen Impfpflicht, sieben sprechen sich für eine sicherheitsdifferenzierte Ausweitung auf vulnerable Gruppen aus, dreizehn befürworten eine allgemeine Impfpflicht für alle, wobei natürlich ein gewaltsames Impfen vermieden werden müsse.
Der Ethikrat betont in seiner Empfehlung die bleibende Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung, die mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Dieses irenische Ziel, das einen (auch christlich begründeten) Kerngedanken Sozialer Marktwirtschaft ausmacht, muss nachhaltig angestrebt werden. Dazu sollte die nun wieder praktizierte interne Experten-Diskussion im Rat mit anschließender öffentlicher Empfehlung ersetzt werden durch einen öffentlichen Diskurs, der vom Ethikrat moderiert wird. So könnten auch die Vertreter der Minderheitenposition selbst zu Wort kommen und an der Diskussion beteiligt werden. Dies ist vor dem Hintergrund angestrebter sozialer Befriedung viel wirksamer als eine theoretische Abwägung der Argumente ohne deren Protagonisten. Eine solche diskursiv irenische Lösung des Dilemmas muss dabei folgende Aspekte berücksichtigen:
- Einer Entscheidung (zur Impfung) aus Verantwortung in Freiheit ist in einer freiheitlichen Ordnung grundsätzlich überall da, wo es möglich ist, der Vorrang zu geben gegenüber staatlich verordneter Pflicht und damit Zwang.
- Der Deutsche Ethikrat soll als Gremium für Werturteilsdebatten aufgewertet werden, indem er grundsätzliche ethische Fragen auch ohne eine ausdrückliche politische Beauftragung auch öffentlich diskutiert und Empfehlungen mit hoher moralischer Verbindlichkeit formuliert. Wenn seine Empfehlungen politisch ignoriert werden, sollte damit zumindest eine moralische Rechtfertigungspflicht verbunden sein.
- Es müssen die ernst zu nehmenden Gründe derer aufmerksam gehört werden, die sich nicht impfen lassen wollen. Hierzu sollen zeitnah entsprechende Vertreter dem Deutschen Ethikrat ihre Argumente öffentlich vorlegen. Diese müssen offen, transparent und fair diskutiert werden. Kursierende Fake-News oder Vorurteile sind aus dem Weg zu räumen.
- Wenn die entscheidenden Argumente der Impfgegner im offenen Diskurs mit guten moralischen Gründen auf Grundlage der personalen menschlichen Würde vom Ethikrat widerlegt werden können, so kann auch mit befriedender Wirkung eine allgemeine moralische Pflicht begründet werden, sich impfen zu lassen. Ausnahmen gelten dann nur noch für diejenigen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können.
- Unter solchen Bedingungen kann die Akzeptanz einer Impfpflicht deutlich erhöht werden, was einer Spaltung der Gesellschaft nachhaltig entgegenwirkt. Denn nach einer so geführten Diskussion werden nur noch wenige Impfgegner bleiben.
- Die dann dennoch gebliebene Verweigerung wäre ein Ausweis fehlender sozialen Tugend. Langfristig macht deren Verhalten dann eine notwendige Nachjustierung der Tugendbildung offenbar, etwa durch die Vermittlung klar begründeter demokratisch-freiheitlicher Werte und solidarischer Prinzipien.
- Besteht also einmal die festgestellte moralische Pflicht, dann kann auch eine staatlich angeordnete allgemeine Pflicht in der Demokratie gerechtfertigt werden. Sie legitimiert dann juristisch durchgesetzten Zwang als Gerechtigkeit bei hoher gesellschaftlicher Akzeptanz. Und das stärkt den sozialen Frieden.
- Werden in einem solchen öffentlich gemachten Diskurs des Ethikrates aber die Gründe der Impfgegner nicht hinreichend widerlegt, so kann eine allgemeine Impfpflicht weder moralisch gefordert noch juristisch legitimiert werden.
- In diesem Fall fehlender Legitimierung ist allenfalls die bereits bestehende bereichspezifische Impfpflicht moralisch begründbar (etwa in Pflegeheimen). Das gilt dann etwa auch für Putzkräfte, Küchenpersonal und andere Gruppen. Die Legitimierung dieser nunmehr segmentierten Pflicht ist dann die Folge einer Werteabwägung zwischen den Grundrechten der dortigen Mitarbeiter und den Grundrechten der Bewohner oder Patienten in diesen Heimen und Einrichtungen. Hier wiegt dann das Gut der wahrscheinlicheren Lebensrettung entscheidend mehr. Dies ist eine Grundwerteabwägung jenseits utilitaristischer Nutzenkalküle.
- Praktisch könnte die bereichspezifische Pflicht mit Kündigungswellen in entsprechenden Einrichtungen verbunden sein, die ohnehin schon an Personalmangel leiden. Das ist in der Abwägung klug mit zu berücksichtigen, um einem solchen Fiasko entgegenzuwirken.
Die Gefahr gesellschaftlicher Spaltung kann entschärft werden, wenn der Deutsche Ethikrat im Procedere öffentlicher Entscheidungsfindung und in der Verbindlichkeit seiner Empfehlungen aufgewertet wird und dabei im Sinne unseres Grundgesetzes seine Verantwortung "vor Gott und den Menschen" ernst nimmt und sie so artikuliert.
Der Autor
Elmar Nass (*1966) lehrt seit vergangenem Jahr Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT). Zuvor war er seit 2013 Professor für Wirtschafts- und Sozialethik an der privaten Wilhelm Löhe Hochschule für angewandte Wissenschaften in Fürth. Nass hat Katholische Theologie und Sozialwissenschaften in Bonn, Rom und Trier studiert. 1994 wurde er in Rom zum Priester geweiht.