Corona-Pandemie hat wirtschaftliche Unterschiede in Deutschland verschärft

Ethiker: In Krise zeigt sich "das hässliche Gesicht des Kapitalismus"

Veröffentlicht am 18.01.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt ‐ Durch Corona werden die Reichen reicher, die Armen ärmer, das zeigt ein neuer Oxfam-Bericht. Wer Eigentum hat, müsse das zum Wohle aller einsetzen, fordert vor diesem Hintergrund der Gesellschaftsethiker Bernhard Emunds – und sieht die Kirchen in der Pflicht.

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Durch die Corona-Pandemie haben die zehn reichsten Deutschen ihr Vermögen um 78 Prozent gesteigert, von 125 Milliarden Euro auf etwa 223 Milliarden Euro. Was die Reichen hinzugewonnen haben entspricht in etwa dem, was die ärmsten 40 Prozent der Deutschen insgesamt besitzen. Das zeigt ein am Montag veröffentlichter Bericht der Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer. Bernhard Emunds, Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie sowie Leiter des Nell-Breuning-Instituts der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt, spricht im Interview über die Fliehkräfte in der deutschen Gesellschaft – und wie die Kirchen auch politisch aktiv werden sollten.

Frage: Herr Emunds, laut dem Oxfam-Bericht haben die zehn reichsten Deutschen ihr Vermögen um 78 Prozent während der Corona-Pandemie vermehrt. Gleichzeitig sind 160 Millionen Menschen weltweit in die Armut abgerutscht. Was ist da falsch gelaufen?

Emunds: Wir sind in einer Krisenzeit und da zeigt sich das hässliche Gesicht des Kapitalismus besonders deutlich. Ökonomische Ungleichheiten werden weiter verstärkt. Das liegt daran, dass es weltweit seit einigen Jahren eine Entwicklung zur Vermögenskonzentration gibt. Wer über ein großes Vermögen verfügt, kann sich Spezialisten leisten, um das Geld besonders gut anzulegen und Steuern zu umgehen. So wachsen besonders große Vermögen besonders schnell. Auch in der Krise werden Renditechancen optimal genutzt. Hinzu kommt, dass vor allem in Regionen ohne ein funktionsfähiges soziales Sicherungssystem arme Menschen in einer solchen Situation ins Nichts fallen.

Frage: In Deutschland gibt es ein soziales Netz – und dennoch treten auch hier diese Effekte auf.

Emunds: Menschen mit schlechten Jobs sind auch in Deutschland eher von Arbeitslosigkeit oder Lohneinbußen betroffen. Außerdem werden Vermögen gerade in Deutschland schon seit langem geschont. Die Vermögenssteuer gibt es seit 1997 nicht mehr – und die Erbschaftssteuer steht eigentlich nur auf dem Papier. Hier wird in der Diskussion oft so getan, als würde der Staat Mittelschichtsfamilien das von der Großmutter geerbte Häuschen wegnehmen. In Wirklichkeit haben die besonders reichen Familien besonders viel Unternehmensvermögen; das kann hierzulande weitgehend unbesteuert von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Diese Mechanismen gibt es auch ohne Pandemie – und dieser Trend hält unverändert an. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass da in der öffentlichen Debatte ein Umdenken stattfinden würde.

Frage: Hat man in der Pandemie die Armen vergessen?

Emunds: Das kann man so für Deutschland nicht sagen. Es hat Unterstützungen für diejenigen gegeben, die ihr Einkommen verloren haben. Dabei hat man aber aus dem Blick verloren, dass auch andere von diesen Hilfsgeldern große Vorteile haben: Von dieser Unterstützung fließt nämlich nicht wenig Geld an die Vermieter. Mit den staatlichen Unterstützungsgeldern werden auch Aktienkurse gestützt; die haben sich in der Pandemie formidabel entwickelt. Durch den Immobilienbesitz oder durch Aktienpakete haben sehr reiche Menschen in Deutschland von den Hilfspaketen des Staates profitiert.

Alter Mann ist einsam
Bild: ©stock.adobe.com/MarcoAntunes

Die Corona-Pandemie hat wirtschaftlichen Unterschiede in Deutschland verschärft.

Frage: Wie sieht eine christliche Antwort auf diese Missstände aus?

Emunds: In der katholischen Sozialethik hat die Forderung nach einer anderen Vermögensverteilung Tradition. Zudem wird betont, dass diejenigen, die Eigentum haben, damit auch Verantwortung übernehmen und dass der Staat Gesetze einführen soll, damit die Eigentümer ihr Vermögen so einsetzen, dass es für alle Betroffenen von Vorteil ist. Zudem sollen die Eigentümer über Steuern und Abgaben etwas an die Gesellschaft, von der sie so sehr profitiert haben, zurückgeben. Dazu gehört, dass die Praxis globaler Vermögensverwalter, das Vermögen ihrer Kunden durch mehr oder minder kriminelle Steuertricks diesen Verpflichtungen zu entziehen, öffentlich skandalisiert werden muss. Eine Konsequenz dieser Überlegungen wäre, dass man sich auch in Deutschland für eine ausreichend hohe Besteuerung von Vermögen einsetzen muss. Die sinnvollste Form wäre eine vernünftige Erbschaftssteuerregelung.

Frage: Ist das denn momentan umsetzbar oder brauchen wir ein anderes Wirtschaftssystem?

Emunds: Die Forderung nach einem anderen Wirtschaftssystem gleicht zur Zeit wohl eher der Hoffnung auf ein Himmelreich auf Erden. Das ist bis auf weiteres keine realistische Option. Wichtig wäre es, dass die Politik wieder versucht, unser Wirtschaftssystem zu gestalten und Grenzen zu ziehen. Zum Beispiel, indem diejenigen mit hohen Einkünften und hohen Vermögen auch besonders stark zur Kasse gebeten werden und dass diejenigen, die eh nur wenig Einkommen haben und dann auch noch krisenbeding Einbußen hinnehmen müssen, verlässlich und ausreichend unterstützt werden. Von einer solchen verteilungssensiblen Politik sind wir aber weit entfernt. Auch die neue Koalition konnte sich nicht darauf einigen, den negativen Verteilungseffekten der notwendigen ökologischen Transformation konsequent gegenzusteuern.

Frage: Die Kirchen haben immer noch einen großen Einfluss auf die Politik. Tun sie genug, um dieser Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken?

Emunds: Ich habe den Eindruck, dass die Kirchen im Moment hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind, vor allem die katholische Kirche. Zum Vergleich: Vor 25 Jahren erschien das "Sozialwort der Kirchen". Das hatte mit großer Vehemenz und viel Resonanz darauf aufmerksam gemacht, wie stark die zentrifugalen Kräfte nach der Wiedervereinigung waren, gerade auch im ökonomischen und sozialen Bereich. Das war eine kräftige Wortmeldung der beiden Kirchen. Davon sind wir im Moment weit, weit entfernt.

Frage: Wären die Kirchen in ihrem jetzigen Zustand zu so einer Wortmeldung überhaupt noch in der Lage?

Emunds: Das wäre eigentlich wichtig. Schließlich würden die Kirchen damit der grundlegenden Option Gottes für die Armen entsprechen. Zugleich gilt, dass die Menschen dies trotz allem weiterhin von den Kirchen erwarten. Nach Missbrauchskrise und internen Querelen sind die Erwartungen nicht mehr so hoch wie früher. Aber die Menschen haben schon den Anspruch, dass die Kirchen über Caritas und Diakonie an der Seite der Betroffenen, der Armen, Schwachen und Kranken stehen – und dass sie sich darüber hinaus auch politisch für sie einsetzen. Hier gibt es also noch ein Quäntchen Glaubwürdigkeit, das die Kirchen nicht auch noch verlieren sollten.

Von Christoph Paul Hartmann