Das Münchner Missbrauchsgutachten – ein weiterer Blick in den Abgrund
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Dieses Mal waren die Einbände blutrot statt marineblau. Doch die in Gutachten verpackten Bilanzierungen bleiben auch im Erzbistum München und Freising ein Blick in den Abgrund: Zu oft und zu systemisch wurde mitbrüderlich verniedlicht, mitbrüderlich weggeschaut oder sogar die Brüder im Nebel gedeckt. Kürzer formuliert: Absolutes Führungs- und Leitungsversagen. Fehlerbewusstsein: Ebenso absolut. Bei 0.
Erschreckend wirkt dabei der Blick auf den emeritierten Papst, vormals Joseph Ratzinger. Nicht vorrangig wegen seiner Fehler in den 1980er Jahren, sondern wegen seiner Angaben aus dem vergangenen Dezember, die zwar Klarheit im Kopf beteuern, aber für die Juristen "kaum in Einklang zu bringen sind" mit der Aktenlage und daher "wenig glaubhaft" scheinen. Joseph, der Lügner?
Zumindest erschüttert es die Glaubwürdigkeit der Kirche auf neue Weise: Haben manche immer noch nicht verstanden, dass Nulltoleranzlinie und Salamitaktik einfach nicht zusammenpassen? Und dass juristische Schachzüge mit ausgefeilten Formulierungen nicht schützen, sondern vielmehr demaskieren? Nach einem Jahrzehnt der Enttäuschungen über die Fähigkeit der Kirche, einerseits Schuld aufzuklären und systemische Strukturen selbst zu ändern sowie andererseits für die Betroffenen eine angemessene Empathie zu entwickeln, folgt der nächste Schritt ins Bodenlose: Denn welchen Aussagen der Kirche kann man noch trauen, wenn deren Spitze attestiert wird, wenig glaubhaft zu sein?
Groß ist die Versuchung, allein auf Kardinäle und Bischöfe zu schimpfen. Doch ganz am Ende ihrer Pressekonferenz lassen die Juristen nochmal den Atem stocken, als sie fragen: "War ich nicht Bestandteil eines Systems, dessen Totalversagen zu der Entwicklung (...) geführt hat und war es mir nicht möglich, zu opponieren?" Es ist die Frage nach dem aufrechten Gang – und zwar in jede Gemeinde, auf jeden Platz in die Kirchenbänke.
Egal ob marineblau oder blutrot: Solche Gutachten legen wie eine klaffende Wunde die Vergangenheit offen. Die Zukunft gestalten sie erst, wenn man deren Anfragen endlich ernst nimmt. Rücktritte können dafür Zeichen sein. Neu zu definieren, wer auf welche Weise wie lange Macht in der Kirche ausübt, wird mittelfristig ebenso helfen. Doch wird die Kirche nicht an der Frage vorbeikommen, wie sie künftig ihren Gestaltungsanspruch auf Sakralität ausgestaltet. Die Kirche, wie wir sie zuletzt kannten, ist zu Ende. Der Synodale Weg wird daran nichts ändern. Im besten Fall ermöglicht er den Übergang.
Der Autor
Thomas Arnold ist Leiter der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.