Nach Missbrauchsgutachten: Kardinal Marx will vorerst im Amt bleiben
Der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, hat nach dem Missbrauchsgutachten seinen Rücktritt nicht erneut angeboten. Er klebe aber auch nicht an seinem Amt, sagte er während einer Pressekonferenz des Erzbistums München und Freising am Donnerstag, in der er die Konsequenzen aus dem in der Vorwoche vorgestellten Münchner Missbrauchsgutachten vorstellte. Er selbst trage Verantwortung für das Handeln als Erzbischof. Sein Rücktrittsangebot im vergangenen Jahr sei "sehr ernst" gemeint gewesen. Heute sei Marx bereit, seinen Dienst weiter zu tun, wenn das hilfreich ist. Er wolle sich dazu auch kritisch befragen lassen, falls er selbst oder andere Zweifel daran hätten. "In einer synodalen Kirche werde ich diese Entscheidung nicht mehr mit mir alleine ausmachen."
Marx teilte außerdem mit, dass der langjährige Offizial Lorenz Wolf angeboten habe, alle seine Ämter ruhen zu lassen. Das habe Marx angenommen. Der Offizial werde zu den Vorwürfen im Gutachten Stellung nehmen, kündigte der Kardinal an, bis dahin werde er beurlaubt sein. Wolf wurde durch das Gutachten schwer belastet. Ihm wird Fehlverhalten in zwölf Fällen vorgeworfen. Der Schutz der Institution sei für ihn über dem Schutz der Betroffenen gestanden, heißt es. Aufgrund der Ergebnisse des Gutachtens hatten in den vergangenen Tagen auch Politiker den Rücktritt Wolfs als Vorsitzender des Rundfunkrats des Bayerischen Rundfunks gefordert.
Moralische Verantwortung für systemische Ursachen
Kardinal Marx zeigte sich nach Lektüre des Gutachtens "erneut erschüttert und erschrocken" über das Leid der Betroffenen, aber auch über Täter und Beschuldigte sowie das Verhalten von Verantwortlichen. Betroffene übersehen zu haben, sei seine größte Schuld. "Das ist unverzeihlich", so Marx. Für die systemischen Gründe trage er als Erzbischof eine moralische Verantwortung. Dafür bat er Betroffene und Gläubige um Verzeihung. Wer jetzt noch systemische Ursachen für Missbrauch leugne und einer "notwendigen Reform der Kirche in Haltung und Strukturen" entgegentrete, habe die Herausforderungen nicht verstanden, so Marx. Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs bezeichnete der Kardinal als "Teil einer umfassenden Erneuerung und Reform, wie das der synodale Weg aufgegriffen" habe.
Mit dem Gutachten sei die Kirche "der Wahrheit und der umfassenden Perspektive auf die Kirche" ein Stück näher gekommen: "Wir sehen ein Desaster. Das Gutachten hilft uns, nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Darum geht es jetzt", so Marx weiter. Der Kardinal kündigte an, die Fälle, in denen er selbst belastet werde, mit Fachleuten noch einmal zu prüfen. "Nicht, um mich zu verteidigen, sondern um daraus zu lernen und Veränderungen anzugehen." In einem Fall werfe er sich vor, "nicht wirklich aktiv" auf Betroffene zugegangen zu sein. Der Umgang mit Missbrauch war und ist für Marx Chefsache, betonte er. Er stehe auch nicht im Gegensatz zum Verkündigungsauftrag.
Auf Fragen von Journalisten nach den konkreten Reformen, die in Deutschland angegangen werden können, betonte Marx, dass Menschenrechte universal seien. Im Kardinalsrat zur Kurienreform, dem der Kardinal angehört, habe er mögliche Reformen und die Sicht der Kirche in Deutschland eingebracht. Zentral für alle Veränderungen sei Synodalität: "Sind wir bereit, Synodalität wirklich ernstzunehmen?", so Marx.
Die Einlassungen seines ehemaligen Generalvikars Peter Beer zu Widerständen, denen er sich beim Missbrauch ausgesetzt sah, hätten den Kardinal "erstaunt". "Mein Generalvikar ist mir nicht in Erinnerung als ein durchsetzungsschwacher Mann", so Marx. In jedem großen Apparat gebe es auch Widerstände. Mit Blick auf das Erpressungspotential von Homosexualität im kirchlichen Dienst betonte Marx, dass sich alle kirchlichen Mitarbeiter ohne Furcht zu ihrer Sexualität bekennen können oder nicht. Homosexualität sei nach seiner Überzeugung auch kein Grund für einen Ausschluss vom Priesteramt.
Keine Bewertung des Verhaltens von Benedikt XVI.
Die Erkenntnisse des Gutachtens zum emeritierten Papst Benedikt XVI. wollte Marx nicht kommentieren und verwies auf die von diesem angekündigte Stellungnahme. Er kenne das Gutachten erst seit der Veröffentlichung. Er habe keine Informationen, auf deren Grundlagen er sagen könne, dass Ratzinger als Erzbischof vertuscht habe, er habe aber auch keine Anzeichen dafür, dass die Kanzlei WSW bei der Ausarbeitung des Gutachtens nicht zuverlässig gearbeitet habe.
Generalvikar Christoph Klingan rief Betroffene auf, sich bei der neuen Anlaufstelle des Erzbistums für Missbrauchsfälle zu melden. Diese war vergangene Woche eingerichtet worden und wird nach Klingans Worten dauerhaft bestehen. Bisher hätten sich 50 Menschen gemeldet, darunter auch mehrere Betroffene sexuellen Missbrauchs. Außerdem kündigte Klingan an, dass es auf Wunsch der Betroffenen einen Seelsorger und eine Seelsorgerin als weitere Ansprechpartner geben werde. Für Pfarreien, in denen Missbrauchstäter eingesetzt waren, stünden zudem ab sofort kirchliche und externe Fachleute zur kurzfristigen Unterstützung bei Bedarf zur Verfügung.
Amtschefin Stephanie Herrmann kündigte an, das Erzbistum werde als Konsequenz aus dem Gutachten strukturelle Veränderungen in den Blick nehmen, die es selbst durchführen kann. "Wo wir nicht selbst entscheiden können, etwa bei Änderungen des Kirchenrechts, können wir zumindest die Diskussion anstoßen", so Herrmann. Bei allen strukturellen und organisatorischen Fragen wolle sich das Erzbistum eng mit der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sowie dem Betroffenenbeirat austauschen. Zentral bleibe bei allem der "sensible Umgang" mit den Betroffenen.
Alle Erzbischöfe seit 1945 durch Gutachten belastet
Lorenz Wolf, der nun alle seine Ämter ruhen lässt, gehört zu den einflussreichsten Geistlichen in Bayern. Neben seiner aktuellen Tätigkeit als Offizial ist er zudem seit 1998 Domkapitular, dem Münchner Metropolitankapitel steht er seit 2004 als Domdekan vor. Seit 2010 leitet der 1982 zum Priester geweihte Oberbayer das Katholische Büro in Bayern. Als Kirchenrichter verantwortete er ein Strafdekret im Fall des Wiederholungstäters Peter H. von 2016, der auch im Rahmen des Gutachtens ausführlich dargestellt wird. In dem bislang nicht veröffentlichten Dekret wird nach Recherchen der “Zeit” der damalige Erzbischof Joseph Ratzinger belastet.
Das am Donnerstag vorgestellte Münchner Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) ermittelte 235 mutmaßliche Täter und 497 Opfer im Zeitraum von 1945 bis 2019. Für ihren Umgang mit Missbrauchsfällen werden auch die früheren Erzbischöfe Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., und Kardinal Friedrich Wetter sowie der aktuelle Amtsträger, Kardinal Reinhard Marx, belastet. Die Anwälte werfen Benedikt in vier Fällen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) Fehlverhalten vor. Marx wird Fehlverhalten in zwei, Wetter in 21 Fällen vorgeworfen. (fxn/mal)