Kardinal Marx sucht nach der Missbrauchsstudie neue Wege
Eine Woche hat sich Kardinal Reinhard Marx Zeit gelassen. Dann hat er in einer Pressekonferenz auf das von ihm beauftragte Mammut-Gutachten zum Thema Missbrauch reagiert. In dem 1.900-Seiten-Werk hat eine Anwaltskanzlei versucht zu beschreiben, wie er und seine fünf Vorgänger mit klerikalen Missbrauchsfällen im Erzbistum München-Freising umgingen. Das Ergebnis wurde von vielen Kommentatoren als desaströs beurteilt.
In den ersten Tagen nach der Veröffentlichung stand vor allem sein Vorvorgänger Joseph Ratzinger im Mittelpunkt des Interesses. Als ehemaliger Papst und weltweit zuständiger Richter in Missbrauchsfällen ist er mit Abstand der höchstrangige Beteiligte in dem Verfahren, das weit über Bayern und Deutschland hinaus für Aufsehen sorgt. Durch unglückliche Einlassungen gegenüber den Gutachtern und einen späteren halben Rückzieher sorgte Benedikt XVI. zusätzlich für Aufmerksamkeit. Tagelang schien er der öffentlichen Lüge überführt.
Marx kann noch Entscheidungen treffen
Doch nun stand wieder der amtierende Münchner Erzbischof im Scheinwerferlicht. Anders als seine drei verstorbenen und zwei noch lebenden Vorgänger kann Marx noch kraftvoll öffentlich sprechen. Er kann Entscheidungen treffen: für seine Person und sein Amt, aber auch für die Kirche in seinem Erzbistum und – im Rahmen von Bischofskonferenz und Synodalem Weg – auch für die katholische Kirche in Deutschland. Und er könnte sich, als amtierender Erzbischof, von seinem prominentesten Vorgänger distanzieren.
Eine klare Distanzierung von Ratzinger hat Marx am Donnerstag jedoch nicht vorgenommen und dies auch begründet. Im Ton deutlich anders als der Bischofskonferenz-Vorsitzende Georg Bätzing am Wochenende wandte sich Marx vielmehr gegen eine voreilige Verurteilung Ratzingers. Er erinnerte daran, dass das Anwaltsgutachten "kein Gerichtsurteil" sei und dass es nicht für sich in Anspruch nehmen könne, die letztgültige Wahrheit zu sein. Außerdem warb er dafür, dass man eine weitere ausführliche Stellungnahme des Alt-Papstes abwarten solle, die dieser bereits über seinen Sekretär angekündigt hat.
Auch zu der Frage, ob und unter welchen Bedingungen er selbst im Amt bleiben will, äußerte sich Marx nur unter Vorbehalt. Er wiederholte seine Betroffenheit und seine persönliche Mitschuld; zugleich betonte er, dass sein im vergangenen Jahr von Papst Franziskus abgelehntes Rücktrittsgesuch "sehr ernst gemeint" gewesen sei. Nun aber wolle er sich nicht aus dem Staub machen und sich stattdessen nach Kräften der Missbrauchsaufarbeitung, der Zuwendung zu den Opfern und dem großen Projekt der Kirchenreform in Deutschland und weltweit widmen.
Sollten ihm die Menschen in seinem Bistum aber zu verstehen geben, dass er eher Teil des Problems als Teil der Lösung sei, dann werde er sich diesem Urteil stellen und mit ihnen darüber beraten. Ein einsames Rücktrittsgesuch wie 2021 wird es also nicht mehr geben, sondern ein irgendwie synodal beratenes – wobei der Erzbischof offenließ, welche Menschen und Gremien da den Ausschlag geben werden.
Bleibt noch genug Zeit?
Einige Male blitzte bei Marx auch wieder die Hoffnung auf, dass der Abgrund, in den er und viele andere Bischöfe derzeit schauen, zum Ausgangspunkt für eine umfassende Reform der Kirche werden könne, wie auch Papst Franziskus sie fordert. Gemeinschaftliche Beschlüsse mit den Laien, eine tolerantere Sexualmoral, Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen – die ambitionierten Visionen des Synodalen Wegs wurden wieder einmal genannt.
Aber auf die Frage, ob angesichts rasant zunehmender Austrittszahlen überhaupt noch genug Zeit bleibe, dies alles zu verwirklichen, ging Marx in die Defensive. An einem Punkt gebrauchte er Formulierungen, die fast ein wenig verzweifelt wirkten. Bayern ohne Christentum, das sei doch nicht vorstellbar; die Kirche dürfe ihren Platz nicht räumen, sie sei doch für die Menschen da. Einen Journalisten der "Irish Times", der eben erst den durch Missbrauchsskandale ausgelösten Zusammenbruch der scheinbar unzerstörbaren katholischen Kirche in Irland miterlebt hat, konnte Marx damit augenscheinlich nicht überzeugen.