Missbrauchsskandale schnitten "tief ins Herz der Kirche"

Soziologe Pickel: Entwicklung einer Parallelkirche "nicht unmöglich"

Veröffentlicht am 31.01.2022 um 11:51 Uhr – Lesedauer: 

Göttingen ‐ Seit Jahrzehnten gebe es einen Trend zu Kirchenaustritten, sagt Religionssoziologe Gert Pickel. Durch den Missbrauchsskandal habe sich das noch verstärkt. Er hält es sogar für denkbar, dass sich mittelfristig eine Parallelkirche entwickelt.

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Der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel hält es angesichts zahlreicher Kirchenkrisen und Austritte in der katholischen Kirche für "nicht unmöglich", dass es mittelfristig zu einer Bewegung komme, die eine Parallelkirche etabliere. "Das klingt sehr weitreichend, aber man könnte sich schon vorstellen, dass es in nicht mehr endlos ferner Zukunft auch in Deutschland Bestrebungen gibt, sich von der römischen Kirche loszusagen, weil dort das Hemmnis für die Veränderungen liegt", sagte Pickel in einem Interview mit dem "Göttinger Tageblatt" (Wochenende).

Glaube sei in Deutschland noch immer stark mit der Kirche verbunden, erklärte der Soziologe. Viele Bewegungen wie etwa "Maria 2.0" würden versuchen, die Kirche zu reformieren und für Veränderungen kämpfen. "Wenn sie aber über einen gewissen Zeitraum merken, es wird nichts passieren, dann kommt auch bei ihnen der Punkt, dass sie sagen, ich kann hier nichts mehr bewirken." Wenn diesen Menschen der Glaube wichtig bleibe, könnten sie entweder in die evangelische Kirche eintreten, oder eine neue Kirchengemeinschaft in Deutschland gründen. Aktionen wie "#OutInChurch" hätten gezeigt, dass diese Gruppen zwar in der Kirche bleiben wollen, es aber ein starkes Potenzial für Gegenreaktionen gebe, wenn Sanktionen aus Rom kämen.

Missbrauchsskandal schneide "tief ins Herz der Kirche"

Aus Pickels Sicht ist der Missbrauchsskandal ein Hauptgrund für die derzeitige Kirchenkrise. "Die aktuellen Vorwürfe und vor allem die Missbrauchsskandale schneiden natürlich tief ins Herz der Kirche, in dem Fall der katholischen Kirche." Seit den 1970er Jahren gebe es bereits einen Gesamttrend zu Kirchenaustritten, da viele Menschen die Kirche als eine Institution sähen, die sich nicht an moderne Zeiten anpassen könne. "So werden Dinge wie das Zölibat, der Umgang mit Frauen, mit anderen Lebensformen, die im staatlichen und gesellschaftlichen Leben zumindest verankert und legitimiert sind, in der Kirche überhaupt nicht behandelt", so Pickel. Die Schere werde immer größer zwischen einer Kirche, die für manche "zumindest in früheren Zeiten hängengeblieben ist" und einer sich schnell weiterentwickelnden Gesellschaft.

Gerade durch die Missbrauchsskandale habe die katholische Kirche nun auch selbst ihr soziales Vertrauen und ihre sozialen Angebote nachhaltig durchlöchert. Die Missbrauchsgutachten hätten gezeigt, dass dies strukturelle Probleme seien, so Pickel. "Und das ist auch die Problemlage: Strukturelle Probleme muss ich strukturell lösen und solange ich das nicht kann, werden sie auch nicht verschwinden." Dies scheine von Rom allerdings nicht vorgesehen. (cbr)