Marx: Wollten Benedikt XVI. weder damals noch heute schützen
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat die Vermutung zurückgewiesen, dass er oder seine engsten Mitarbeiter Papst Benedikt XVI. im Jahr 2010 in der Missbrauchsdebatte aus der Schusslinie nehmen wollten. "Weder damals noch heute wollten und wollen wir ihn weder in falscher Weise schützen noch ihm schaden", sagte Marx in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Donnerstag). Seinem Beraterstab gegenüber habe er auch immer deutlich gemacht: "Hier wird die Wahrheit nicht verbogen, das machen wir nicht."
Er hoffe nun, dass sich der emeritierte Papst wie angekündigt umfassend äußern werde, sagte der Kardinal. "Und dass die Erklärung auch ein gutes Wort der Anteilnahme mit den Betroffenen enthält und berücksichtigt, was die Erwartungen sind, die jetzt da sind." Sein persönliches Verhältnis zu Benedikt XVI. sei immer gut gewesen, "auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren und sind", so Marx.
Über Missbrauch hätten sie beide zum ersten Mal im Jahr 2010 gesprochen, führte Marx weiter aus. Damals sei ein riesiger Medienwirbel gewesen. "Da habe ich beim Mittagessen zu ihm gesagt: Du und ich, wir beide wissen, wenn da nichts ist, dann verläuft sich das. Aber wir wissen, dass zu viel da ist. Deswegen wird sich das nicht verlaufen, und wir werden das anpacken müssen."
Marx: Wolf soll sich äußern
Weiter forderte Marx seinen Kirchenrichter Lorenz Wolf auf, sich zu den einzelnen, gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. "Das muss er tun, zeitnah, diese Gelegenheit will ich ihm einräumen." Dass sein Offizial sogar die Legitimität des von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Auftrag der Erzdiözese München und Freising erstellten Gutachtens bestritten habe, könne er nicht so stehen lassen, erklärte der Kardinal.
In Reaktion auf das Gutachten hatte Marx am vergangenen Donnerstag mitgeteilt, dass Wolf alle seine Ämter und Aufgaben vorerst ruhen lasse. Der 66-Jährige zählt zu den einflussreichsten Kirchenmännern in Bayern. Der Domdekan ist neben seinen Funktionen im Erzbistum München und Freising als Leiter des Katholischen Büros die Schnittstelle der Kirche zur Politik in Bayern. Außerdem sitzt er seit 2014 dem Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks (BR) vor. Aus diesem Gremium waren zuletzt Rücktrittsforderungen laut geworden. Dort will Wolf am Donnerstag im nichtöffentlichen Teil der digitalen Sitzung ein Statement abgeben.
Richard Kick vom Betroffenenbeirat der Erzdiözese hatte den obersten Kirchenrichter nach der Veröffentlichung des Gutachtens scharf angegriffen. Er warf ihm eine "perfide Art" im Umgang mit Betroffenen im Verhör vor. Dadurch hätten sich diese erneut missbraucht gefühlt. Der Offizial habe damit eine Welle der Bereitschaft, sich zu offenbaren, die 2010 einsetzte, zum Erliegen gebracht.
Der promovierte Kirchenrechtler ist seit 1997 für die kirchliche Gerichtsbarkeit im Erzbistum verantwortlich. Oft war er als zweite Instanz im Auftrag der römischen Kurie mit Missbrauchsfällen befasst. Aus seiner Feder stammt ein im Mai 2016 unterzeichnetes Strafdekret gegen den Wiederholungstäter Peter H., der 1980 aus dem Bistum Essen nach Bayern kam. Ihm ist im Gutachten der Anwälte ein Sonderband gewidmet. Wolfs Dekret ist Gegenstand kontroverser Debatten, an der sich inzwischen auch mehrere Kirchenrechtler beteiligt haben.
Marx für verheiratete Priester
Außerdem sprach sich Marx dafür aus, dass katholische Priester heiraten dürfen: "Es ist falsch, die Möglichkeit, den Zölibat zu leben, einfach auf den Einzelnen abzuladen." Der Zölibat sei "prekär", alleine zu leben, nicht so einfach.
"Es wäre besser für alle, die Möglichkeit für zölibatäre und verheiratete Priester zu schaffen", so der Kardinal. "Bei manchen Priestern wäre es besser, sie wären verheiratet. Nicht nur aus sexuellen Gründen, sondern weil es für ihr Leben besser wäre und sie nicht einsam wären. Diese Diskussionen müssen wir führen."
Auf die Frage, ob er einen Zusammenhang zwischen dieser Einsamkeit und dem sexuellen Missbrauch sehe, antwortete der Münchner Erzbischof: "Pauschal kann man das nicht sagen. Aber diese Lebensform und dieses Männerbündische ziehen auch Leute an, die nicht geeignet sind, die sexuell unreif sind."
Zurückhaltender äußerte sich Marx zur Öffnung von Weiheämtern für Frauen. Die Diskussion müsse weiter geführt werden. Er persönlich sei auch "da nicht am Ende". Allerdings seien die Argumente, dass es nicht geht, für ihn im Laufe seines Lebens immer schwächer geworden. "Ich weiß nur, dass wir einen großen Konsens brauchen. Oder man zerbricht das ganze Gebäude."
Kritisch bewertete der Münchner Erzbischof die katholische Sexualmoral. Diese habe "viele Verklemmungen erzeugt. Da haben wir Schuld auf uns geladen". Ihm habe mal ein alter Priester gesagt: "Wenn ich alles wiedergutmachen könnte, was ich im Beichtstuhl angerichtet habe bei dem Thema." Das habe ihn, Marx erschüttert. "Und langsam bekommen wir eine Rechnung, die sich über Generationen hinweg angehäuft hat", fügte er hinzu.
Kardinal zu "Closed-Shop"-Mentalität unter Priestern
Zudem räumte Marx ein, dass die oftmals stark empfundene Mitbrüderlichkeit unter Priestern zu einer "Closed-Shop"-Mentalität führen könne. "Mit welcher Freude habe ich zum ersten Mal meinen Priesterkragen getragen." Dann sei er mal mit dem Talar nach Hause gekommen, und seine Mutter habe gefragt: "Musst du denn immer so rumlaufen?" Seine Antwort sei gewesen: "Ist doch schön, was hast du denn?" Jahre später sei ihm dann der Gedanke gekommen: "Guck mal, da hatte sie schon das richtige Gefühl."
Es sei einfach ein bisschen übertrieben gewesen, sagte Marx. "Die Gefahr, dass wir den Kreis dichtmachten. Hier kommt keiner rein! Heute sage ich klar: Das ist so nicht akzeptabel und auch nicht gut für uns selbst."
Der Münchner Erzbischof sagte, vor 20 bis 30 Jahren habe er sich nicht vorstellen können, "dass Missbrauch in dem Ausmaß bei Priestern passiert". Die Verantwortlichen in der Kirche hätten Priestern oft geglaubt, wenn diese Vorwürfe bestritten hätten. "Ich bin der Meinung, wir haben den Priesterstand schützen wollen. Das war so. Auch noch nach den ersten Leitlinien 2002." Ab 2010 aber nicht mehr, fügte er hinzu. (rom/KNA)