Fast unmöglich, sich wie ein "normaler Bürger" zu verhalten

Psychiater Huth: Benedikt XVI. tut sich mit Zugehen auf andere schwer

Veröffentlicht am 21.02.2022 um 14:50 Uhr – Lesedauer: 

München ‐ Hat Benedikt XVI. bei seinen Angaben zum Münchner Missbrauchsgutachten gelogen? "Zu einfach wäre es, wenn er gelogen hätte", sagt der Psychiater Werner Huth. Er glaube vielmehr, dass man es hier mit "etwas viel Tragischerem" zu tun habe.

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Der Münchner Psychiater Werner Huth hält den emeritierten Papst Benedikt XVI. (94) zwar für einen "außerordentlich klugen Mann". Menschen wie Ratzinger täten sich aber oft schwer, unmittelbar auf andere zuzugehen, sagte Huth der Münchner "Abendzeitung" (Montag). Sie sähen sich nur noch als Repräsentanten ihrer Institution. Solchen Menschen sei es fast unmöglich, sich wie ein "normaler Bürger" zu verhalten, so der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie weiter. Es falle ihnen zum Beispiel schwer zu sagen: "Ich habe damals etwas falsch gemacht, aber ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, vermutlich weil vieles für mich neu war. (...) Bitte verzeihen Sie mir!"

Auf die Frage, ob Benedikt hinsichtlich seiner Angaben zum Münchner Missbrauchsgutachten gelogen habe, meinte Huth: "Zu einfach wäre es, wenn er gelogen hätte!" Er glaube vielmehr, dass man es hier mit "etwas viel Tragischerem" zu tun habe. Joseph Ratzinger, von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising, sei zwar ein bedeutender Theologe: "Aber alles, was mit Verwaltung zu tun hatte, war offensichtlich nicht so seine Welt." Wer so ausgerichtet sei, vergesse eher etwas, etwa einen Routinevorgang wie die Versetzung eines Priesters in eine andere Diözese. Der 1929 geborene Psychiater fügte hinzu: "Es sieht so aus, als habe sich der damalige Erzbischof Ratzinger so sehr mit der katholischen Kirche identifiziert, dass er alles zu deren Sicherung getan hat."

Der emeritierte Papst hatte nach der Veröffentlichung des Gutachtens eine wesentliche Aussage korrigiert. Er räumte ein, entgegen seiner früheren Darstellung an einer wichtigen Sitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen zu haben. Der Fehler sei "Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme". Dies tue ihm "sehr leid", und er bitte, dies zu entschuldigen. Allerdings sei in der Sitzung "über einen seelsorgerlichen Einsatz des betreffenden Priesters nicht entschieden" worden.

Beide großen Kirchen waren bei Missbrauch nachlässig

Bei der Sitzung ging es darum, den Priester Peter H. aus der Diözese Essen in München aufzunehmen. Huth erläuterte in dem Interview, der Geistliche sei damals an ihn überwiesen worden. Er habe H. nur unter der Bedingung aufgenommen, dass dieser nie wieder mit Jugendlichen arbeiten dürfe. Bald aber war H. wieder seelsorglich tätig und verging sich erneut an Kindern.

Beim Umgang mit Missbrauchstätern war nach Ansicht Huths insgesamt sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche "große Nachlässigkeit" verbreitet. "In beiden neigte man dazu, unangenehme Vorgänge zu verschleifen und zu bagatellisieren, um weiter business as usual machen zu können", sagte der Psychiater. Dazu sei eine Art Wagenburg-Mentalität gekommen. "Alles war darauf ausgerichtet, dass nichts nach außen dringt und der Schein gewahrt bleibt." (tmg/KNA)