Gutachten-Kommission stellt Arbeitsbericht vor und zieht Bilanz

Missbrauch im Erzbistum Berlin: Weitere Verdachtsfälle und Kritik

Veröffentlicht am 01.03.2022 um 15:10 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Nicht nur die Erzbistümer Köln oder München haben in der Vergangenheit ein Missbrauchsgutachten vorgelegt, sondern auch Berlin. Und auch dort lief nicht alles rund. Jetzt hat die Gutachten-Kommission des Erzbistums ihre Ergebnisse vorgelegt – und Maßnahmen vorgeschlagen.

  • Teilen:

Wenn es um Missbrauchsgutachten deutscher Diözesen geht, stehen in der Öffentlichkeit vor allem die großen Erzbistümer Köln und München im Fokus. Ob das Hin und Her von Kardinal Rainer Maria Woelki im Umgang mit den zwei Kölner Gutachten – dem zurückgehaltenen Gutachten der Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl und dem im März vergangenen Jahres veröffentlichten Gutachten der Kölner Kanzlei Gercke Wollschläger – oder das in der Münchner Untersuchung dokumentierte Fehlverhalten des emeritierten Papstes Benedikt XVI.: Die Aufarbeitung in den beiden Erzdiözesen wurde und wird öffentlich ebenso aufmerksam wie kritisch begleitet.

Übersehen wird dabei mitunter, dass auch andere Bistümer bereits Missbrauchsgutachten veröffentlicht haben – und dabei teilweise auch nicht alles rund läuft. Beispiel Berlin: Ende Januar vergangenen Jahres veröffentlichte das Erzbistum ein Gutachten der Berliner Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs, das für die Zeit ab 1946 zahlreiche Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese dokumentierte. Das Problem: Die Untersuchung wurde zunächst nur teilweise veröffentlicht. Nicht publiziert wurden 442 Seiten mit Angaben über 61 Beschuldigte und dazugehörigen Stellungnahmen des früheren Berliner Erzbischofs Woelki und seines Nachfolgers Heiner Koch sowie des emeritierten Weihbischofs Wolfgang Weider und des amtierenden Weihbischofs Matthias Heinrich. Das Erzbistum begründete dies mit dem Persönlichkeitsschutz von Beschuldigten und Betroffenen.

Schatten auf dem Gutachten

Damit lag nach der Veröffentlichung ein Schatten auf dem Gutachten, der erst fünf Monate später weitgehend gelichtet wurde. Mitte Juni veröffentlichte das Erzbistum den zuvor unter Verschluss gehaltenen Teil der Untersuchung, in dem die Autoren der Studie die 61 Fälle und auch die aus ihrer Sicht gemachten Fehler im Umgang mit den Beschuldigten näher darstellten. Teilweise blieben die Namen der beschuldigten Priester und Ordensleute und weitere Angaben zu ihnen jedoch geschwärzt. Warum dies jeweils erfolgte, erschloss sich nicht in jedem Fall. Während auch noch lebende Beschuldigte fallweise namentlich genannt wurden, wurde der Name eines als "prominentester Kleriker" bezeichneten Beschuldigten unleserlich gemacht, obwohl er bereits tot ist und in anderen Gutachten Beschuldigte von ähnlichem Rang als Personen der Zeitgeschichte mit Klarnamen genannt wurden.

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Auch bei den zu ziehenden Konsequenzen aus dem Gutachten hakte es zunächst. Eine Kommission aus Vertretern der Priester und der diözesanen Räte im Erzbistum, die mit dem Gutachten arbeiten und Empfehlungen für Maßnahmen geben sollte, musste bereits kurz nach ihrer Gründung einen Rücktritt verkraften. Domvikar Matthias Goy trat bei der ersten Sitzung des Gremiums zurück, weil er im damals noch unveröffentlichten Teil des Gutachtens am Rande genannt wurde. Der Rücktritt sei erfolgt, damit "der Kommission durch seine Mitarbeit keine von Außenstehenden und der Öffentlichkeit befürchtete Beeinflussung vorgeworfen werden kann", erklärte das Erzbistum im Februar vergangenen Jahres.

Im Juni schließlich stellte die Kommission ihre Arbeit dann zunächst komplett ein. Die Kanzlei Redeker Sellner Dahs habe die im Gutachten behandelten Fälle "nicht ausreichend bearbeitet", begründete das Gremium seinen Schritt. Dies habe dazu geführt, dass die Kommission einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit "in die Bearbeitung des unzureichenden Teils des Gutachtens investieren musste". Deshalb könne sie eine "abschließende und zusammengeführte Bewertung" nicht vorlegen. Das Gremium befasste sich damals konkret mit fünf Fällen von Missbrauch durch Geistliche, die als "dringend" eingestuft worden waren. Die Kommission hatte nach eigener Einschätzung aber weder das Fachwissen noch die Zeit für die ihr gestellte Aufgabe, mit Blick auf Missbrauchsfälle das Verhalten von Vorgesetzten der beschuldigten Geistlichen zu bewerten und disziplinarrechtliche Maßnahmen vorzuschlagen.

"Verantwortungsvolle Kirche", "Kompetente Kirche" und "Sichere Kirche"

Die Kommission empfahl, eine juristische Bewertung durch die Kanzlei nacharbeiten zu lassen oder eine weitere Kanzlei zu beauftragen. Die Kanzlei erklärte jedoch, es sei kein weiteres Gutachten erforderlich, sondern die "Umsetzung der Konsequenzen, die sich aus den von uns festgestellten schwerwiegenden Missständen ergeben haben".

Nach einer Neuausrichtung ihres Auftrags nahm die Kommission ihre Arbeit im August wieder auf und legte an diesem Dienstag nun konkrete Ergebnisse vor. Bei einer Pressekonferenz in der Katholischen Akademie in Berlin präsentierte das Gremium seinen Arbeitsbericht und einen 28-seitigen Maßnahmenplan. Basierend auf den zwölf Empfehlungen, die von den Anwälten im Gutachten gegeben worden waren, schlägt die Kommission in drei Kapiteln – "Verantwortungsvolle Kirche", "Kompetente Kirche" und "Sichere Kirche" – konkrete Schritte zur weiteren Aufarbeitung vor. Unter anderem empfiehlt sie Maßnahmen in den Bereichen Fallmanagement, Aktenführung und Prävention.

Bild: ©Erzbistum Berlin/Walter Wetzler

Wollen gemeinsamen mit den betroffenen Personalverantwortlichen sprechen, was ihnen angemessen erscheine, "um Versäumnisse und Fehler einzugestehen und Verantwortung dafür zu übernehmen": Erzbischof Heiner Koch (l.) und sein Generalvikar Manfred Kollig.

Generalvikar Manfred Kollig würdigte die Vorschläge: "Der Maßnahmenplan hat mir bis hierher schon viele wichtige Perspektiven und blinde Flecken deutlich gemacht. Er wird uns in den nächsten Jahren ein guter Begleiter, Ratgeber und Korrektiv sein." Als erste konkret Maßnahmen nannte er die Einführung eines Beschwerdemanagements, eine regelmäßige externe Überprüfung der Aktenführung und die Erstellung von Standards in der Beichtvorbereitung sowie Erstkommunion- und Firmkatechese.

In ihrem Arbeitsbericht wiederum kritisierte die Kommission den Umgang von früheren Personalverantwortlichen mit Fällen sexualisierter Gewalt. Unter anderem warf das Gremium ihnen wegen der Verzögerung bei der Behandlung der Fälle "eine nicht optimale Arbeitsmoral und unzureichendes Verantwortungsbewusstsein" vor. Zugleich betonte es jedoch, dass eine Pflichtverletzung mit Blick auf das Kirchenrecht und die Vorgaben der Deutschen Bischofskonferenz bei den Personalverantwortlichen in den fünf besonders dringlichen jüngeren Fällen "nicht zu erkennen" sei. Das Erzbistum hatte diese Fälle auf Initiative der Kommission schließlich durch zwei Kirchenrechtler prüfen lassen.

Elf neue Vorwürfe sexuellen Missbrauchs im Jahr 2021

Bei der Vorstellung des Berichts betonte Generalvikar Kollig, es gebe "keine Grundlage für weitergehende disziplinarische Maßnahmen". Zugleich äußerte er Verständnis dafür, dass Betroffene "denen misstrauen, die bisher als Personalverantwortliche tätig waren". Deshalb habe Erzbischof Koch entschieden, dass Personalverantwortliche, die ihrer Verantwortung nicht immer oder nicht umfassend gerecht worden seien, "gegenwärtig und zukünftig weder in Voruntersuchungsverfahren bei Anzeigen von Missbrauch noch in die Bearbeitung von Missbrauchsfällen überhaupt einbezogen werden". Kollig kündigte zudem an, Koch wolle gemeinsam mit ihm mit den betroffenen Personalverantwortlichen darüber sprechen, was ihnen angemessen oder geboten erscheine, "um Versäumnisse und Fehler einzugestehen und Verantwortung dafür zu übernehmen".

Im Rahmen der Pressekonferenz wurde zudem bekannt, dass dem Erzbistum Berlin im vergangenen Jahr elf neue Vorwürfe sexuellen Missbrauchs oder sexueller Übergriffe an Minderjährigen oder erwachsenen Schutzbefohlenen durch Kirchenmitarbeiter gemeldet wurden. Davon beträfen drei aktuelle Sachverhalte, die anderen bezögen sich auf Vorkomnisse, die sich vor mehr als zehn Jahren ereignet hätten, teilte die Erzdiözese mit. Bei den drei aktuellen Sachverhalten sei in einem ein Kleriker beschuldigt worden, bei den älteren Fällen richteten sich sechs Vorwürfe gegen Geistliche; davon seien zwei bereits im Missbrauchsgutachten erwähnt worden. Alle beschuldigten Geistlichen seien bereits verstorben. Damit gebe es seit 2002 insgesamt 112 Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt, die bis in das Jahr 1947 zurückgingen. In einem Fall werde derzeit eine kirchenrechtliche Voruntersuchung geführt, alle Sachverhalte seien zudem entsprechend der Leitlinien den staatlichen Ermittlungsbehörden mitgeteilt worden.

Von Steffen Zimmermann