Sozialethikerin: Solidarität mit der Ukraine kann auch wehtun
Europa zeigt sich solidarisch mit der Ukraine, doch die Öl- und Gasimporte laufen auch nach den jüngsten Ankündigungen der EU-Kommission weiter. Vor allem Deutschland ist von russischem Gas abhängig. Pro Tag spült Europa dem russischen Staatschef Wladimir Putin auf diese Weise eine Milliarde Euro in die Staatskasse – während in der Ukraine Menschen sterben. Gleichzeitig würden Sanktionen die Benzin- und Heizpreise in Deutschland weiter in die Höhe treiben. Die Würzburger Professorin für Christliche Sozialethik, Michelle Becka, spricht im Interview über eine Abwägung und ethische Anhaltspunkte für politisches Handeln.
Frage: Frau Becka, von EU-Sanktionen gegen Russland ist der Import von Gas und Öl bislang noch ausgenommen, auch mit Verweis auf hohe Benzin- und Heizkosten. Es gibt lediglich einen Plan, im Laufe des Jahres unabhängiger von russichen Importen zu werden. Andererseits will man sich aber gegen den Aggressor Wladimir Putin positionieren. Funktioniert das so?
Becka: Zunächst muss man sich fragen: Hilft eine Maßnahme, um den Aggressor zu stoppen? Es wird allgemein angenommen, dass zumindest die Gasimporte beendet werden müssten, um dieses Ziel zu erreichen. Bei Öl stellt sich das etwas anders dar, aber es wäre dringend notwendig, den Gashandel mit Russland einzustellen. Schnell. Damit verbunden ist wiederum die Frage, warum die Politik diesen Schritt im Moment nicht geht. Sie fürchtet die steigenden Preise und weitere Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Spätestens mit dem Abbruch des Gashandels müssten also Unterstützungsleistungen für arme Haushalte und auch Wirtschaftsunternehmen auf den Tisch. Wenn man 100 Milliarden Euro für den Militärhaushalt zusagen kann und auch in der Corona-Pandemie so viel möglich war, müssen solche Transfers möglich sein.
Frage: Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich dafür ausgesprochen, nicht alle Verbindungen nach Russland abzubrechen. Wie sehr spielt diese Abwägung zwischen Zugehen und Eskalation eine Rolle?
Becka: Das ist eine wichtige Abwägung – ich komme selbst aus der Friedensbewegung und halte Deeskalation für das zentrale Ziel. Aber es ist Putin, der alle Brücken abgebrochen hat. Sanktionen sind nie unproblematisch, man trifft immer auch Menschen, die man nicht treffen will, zum Beispiel die normale Bevölkerung. Sie können nicht das einzige Instrumentarium sein. Militärisches Eingreifen kommt nicht infrage, bleibt also noch die zivile Konfliktlösung – das wurde im ganzen Konflikt seit 2014 extrem vernachlässigt. In diese Richtung müsste man stärker gehen: Diplomatische Bemühungen, Dialog auf allen Ebenen, Solidarisierungsbewegungen – das ist wichtig. Aber mein Eindruck ist, dass das im Moment nicht reicht, um Putin zu stoppen. Brücken abzubrechen oder – das hat man am Anfang oft gesagt – ihn nicht sein Gesicht verlieren zu lassen: Dafür hat er vermutlich zu viele Fakten geschaffen, um das noch ins Feld führen zu können. Das heißt nicht, dass diplomatische Wege jetzt verbaut sind und ich hoffe, dass die Politik daran weiterarbeitet. Ich würde das aber nicht als Alternative zu den Sanktionen sehen. Aktuell hat Putin gedroht, Nord Stream 1 und damit die Gasversorgung nach Deutschland zu kappen. Wenn Europa nun selbst aktiv würde, hätte er dieses Drohpotential nicht mehr. Die Gastransfers jetzt einzustellen, wäre ein Akt der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, damit der Krieg gegen sie nicht mit "unserem Geld" finanziert wird.
Frage: Mit jeder Sanktion greifen wir in Europa auch unseren eigenen Wohlstand an. Wie weit sollten wir dazu bereit sein, um gegen einen Aggressor wie Putin Flagge zu zeigen?
Becka: Wenn man größeres Leid verhindern kann, muss man Beeinträchtigungen beim eigenen Wohlstand hinnehmen. Wir erklären uns gerade oft solidarisch. Das ist auch gut so. Aber Solidarität ist mehr als ein Klick auf Facebook – sie kann auch weh tun! Wir müssen mit Einschränkungen rechnen.
Der Punkt ist eher: Wo trifft es diejenigen, bei denen nicht der Wohlstand eingeschränkt wird, sondern die existenziell betroffen sind, weil sie schon jetzt zu wenig Geld haben, um etwa ausreichend zu heizen. Von ihnen kann man nicht erwarten, noch mehr einzusparen. Hier sind Unterstützungen seitens der Politik erforderlich. Für die Wohlhabenderen kann das hingegen durchaus gelten.
Frage: Wir müssen also Opfer bringen.
Becka: Ja. Aber die Frage, die momentan fehlt, ist: Was passiert ohne diese Sanktionen? Es ist ja nicht so, dass dann keine Opfer zu bringen sind. Dann sind die Probleme nicht gelöst. Die Energiemärkte sind sensibel, die Preise steigen jetzt schon und sie werden weiter steigen, weil wir hier eine sehr ernste geopolitische Krise haben – und weil in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Durch den Krieg mangelt es zudem schon jetzt an anderen Rohstoffen und Zulieferungsprodukte. Diese Probleme hängen nicht allein an einem Stopp der Gasimporte. Viel extremer sind aber die Folgen vor Ort: In der Ukraine werden weiter Menschen sterben und es wird mehr Zerstörung geben. In dieser Abwägung zwischen dem Leid der Menschen in der Ukraine und unserem Wohlstand, müsste man sich für Einschränkungen unseres Wohlstands entscheiden.