Reisinger: Missbrauchsaufarbeitung in Kirche "heillos verfahren"
Die Theologin Doris Reisinger sieht in der Aufarbeitung des Missbrauchs in der Kirche eine "heillos verfahrene Situation aus massenhaftem Unwissen, Intransparenz, Inkompetenz, Wunschdenken, PR, Skrupellosigkeit, Machtkonzentration, Machtverschleierung, Gaslighting, entsetzlichem Leiden und spirituellem Kitsch". In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Herbert-Haag-Preises, die das Online-Portal kath.ch am Montag veröffentlichte, sagte sie, dass es "für uns als Betroffene unerträglich" sei, "die Diskrepanz zwischen dem Auftreten kirchlicher Akteure in der Öffentlichkeit und ihrem Handeln uns gegenüber auszuhalten". In der Begleitung von anderen Betroffenen zeige sich permanent, "wie bischöfliche Behörden Tag für Tag routiniert Opfern das Leben schwermachen" durch Verzögerung, Bürokratie und Einschüchterung. Zugleich würden weiterhin Täter geschützt.
"Die kirchliche Leitung relativiert und retraumatisiert weiter, während sie zugleich der Öffentlichkeit und dem Kirchenvolk erzählen, dass sich vieles gebessert habe und dass man jetzt intensiv Prävention betreibe und schonungslos aufklären müsse – was die Öffentlichkeit und die sogenannten einfachen Gläubigen oft nur allzu gerne hören und glauben", so Reisinger weiter. Die öffentliche Debatte habe "noch nicht einmal an der Oberfläche gekratzt", was in der katholischen Kirche Frauen angetan wurde und werde. Die Theologin führte dazu insbesondere "organisierten spirituellen Missbrauch in sektenähnlichen kirchlichen Gruppen" sowie den Umgang mit von Tätern erzwungenen Abtreibungen an.
Fehlende Grundlage für echte Aufarbeitung
Die Reform der Kirche brauche ein ein "Mindestmaß an funktionierender Struktur, eine Verfassung, eine Rechtsordnung, eine Grundlage, die die Reform tragen kann, ohne selbst reformbedürftig zu sein", so Reisinger weiter. Diese Grundlage gebe es in der katholischen Kirche nicht: Die Kirche funktioniere wie eine "feudale Ständeordnung", Grundrechte von Gläubigen fehlten, das Recht der Kirche bilde auch nach der jüngsten Strafrechtsreform Sexualstraftaten nicht angemessen ab, außerdem fehlten in der kirchlichen Justiz Transparenz, Opferschutz und Beteiligungsrechte als Nebenkläger für Betroffene.
Die Theologin und Philosophin Doris Reisinger arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo sie zu Missbrauch in der Kirche forscht. Sie war früher Mitglied der Geistlichen Familie "Das Werk". 2014 machte sie in ihrem Buch "Nicht mehr ich – Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau" ihre Erfahrungen von Missbrauch öffentlich. Der Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche wurde am Sonntag in Luzern an acht Betroffene von Missbrauch verliehen, die sich für die Aufarbeitung und für andere Betroffene engagieren. Vor der Veranstaltung bezeichnete die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, die Preisverleihung als Mahnung: "Betroffene zählen – nicht die Kirche." Noch immer machten sich zu viele vor allem Sorgen um das Image der Institution. "Dabei geht es um Menschen und ihre Schicksale. Die Perspektive zu wechseln ist Voraussetzung dafür, dass sich Grundlegendes verändert", so die ZdK-Präsidentin. (fxn)