Ein Nackter in der Kirche: Wie das Innsbrucker Fastentuch provoziert
Ein Mann liegt auf einem gestreiften Laken. Sein Oberkörper nackt, seine Augen geschlossen. "Tired?", "Müde?", heißt die Installation der österreichischen Fotografin Carmen Brucic in der Innsbrucker Universitätskirche Sankt Johannes. Das überdimensionale Foto des Mannes hängt als Altartuch über dem Tabernakel des barocken Hochaltars. Es zeigt den 23-jährigen Aktivisten und Performancekünstler David Apakidze. Er ist Halbukrainer, halb Georgier. Als Brucic ihn im Sommer 2021 bei einem Fotofestival in Georgien portraitierte, ahnte sie nicht, welche Aktualität ihr Bild entwickeln würde. "Apakidze versteht sich als Künstler im Widerstand, auch gegen den Krieg", sagt die Fotografin im Gespräch mit katholisch.de. Schon als Kind habe er die russischen Angriffe auf Georgien im Kaukasus-Krieg miterlebt und leide bis heute darunter.
Die Tiroler Künstlerin thematisiert in ihrer Fotografie immer wieder die menschliche Verwundbarkeit. "Gegenwärtig haben wir in der Ukraine einen Krieg und die Kinder und Jugendlichen dort erleben genau dieselben Traumata wie er als 10-Jähriger damals", sagt Brucic. Für den Innsbrucker Bischof Hermann Glettler reihe sich diese großformatige Fotoinstallation von Carmen Brucic genau deshalb in die Tradition der mittelalterlichen Fastentücher ein, wie er in seiner Predigt zum Aschermittwoch im Rahmen der Ausstellungseröffnung sagt. Ein sogenanntes Fasten- oder Hungertuch verhüllt in der Fastenzeit in katholischen und evangelischen Kirchengebäuden die bildlichen Darstellungen Jesu, in der Regel das Kruzifix, das den Kreuzestod Jesu darstellt.
Das Foto der österreichischen Künstlerin wolle ähnlich wie ein Fastentuch zum Mitfühlen anregen und kein Ärgernis sein, so der Bischof weiter. Er selbst hat die Fotoarbeit für die Ausstellung in der Kirche ausgewählt und mit der Frage "Müde?" betitelt. Der Mensch auf dem Foto scheint zu schlafen, etwas verloren, gezeichnet vom Leben, erklärt Glettler. Seine Haltung auf der Matratze werde durch die Drehung des Fotos intensiviert. Das sei wie ein ambivalenter Zustand zwischen Absturz und Ausruhen, Ohnmacht und Ergebung. Bei der Auswahl des Fotos habe weder der Bischof noch die Künstlerin selbst ahnen können, dass es eine gleichsam prophetische Wirkung entfalten würde, erklärt Brucic. "Konfrontiert mit der Fratze des Krieges mitten in Europa gibt es zahllose Analysen, energische Demos und Appelle. Doch vieles scheint ins Leere zu gehen", meint der Bischof in Bezug auf die aktuelle Situation in der Ukraine. Wirklich ermüdend sei jedoch für alle Friedens- und Menschenrechtsaktivisten, dass einzelne Machtbesessene ungeheuerliche Waffenarsenale in den Händen haben und scheinbar alle Friedensbemühungen ad absurdum führen können.
Die Installation in der barocken St. Johannes Nepomuk ist für manche Betrachter trotz der brisanten Deutung ein Ärgernis. So liest man kritische Reaktionen auf konservativen Nachrichtenportalen. Das Bild würde an einer unpassenden Stelle in der Kirche hängen, nämlich genau dort, wo sich das Allerheiligste befinde. Auch dass der liegende Mann in einer übertriebenen Pose abgebildet wäre, sei verstörend. Hinzu kommt, dass David Apakidze, der Protagonist auf dem Foto, ein bekannter Transaktivist in der "Queer"-Szene in Georgien ist. Für Bischof Glettler war das dagegen kein Problem. In der österreichischen Bischofskonferenz ist der Innsbrucker Bischof für den Bereich Kunst und Kultur zuständig.
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Mit dem Fotoprojekt aus der Serie "Private Stages" hatte Carmen Brucic im Rahmen des Tbilisi Photo Festivals 2021 in Tiflis fünf Aktivisten der dortigen "Rave Revolution" porträtiert, die sich als Teil einer wesentlich größeren Community mit Tanz, Performance und anderen kreativen Ausdrucksformen für Freiheit und soziale Gerechtigkeit engagieren. Politisch Engagierte, künstlerische Performer, Queer-People und Freiheitsliebende aller Art sind gemeinsam aktiv. Apakidze sei sogar einer deren Gründer, berichtet Brucic.
Der drei mal viereinhalb Meter große Digitalprint aus Stoff zeigt Apakidze mit ausgestrecktem Arm liegend. Man erkennt darauf Tätowierungen. Eine davon zeigt eine Taube mit Gesicht. Es sei die berühmte Friedenstaube von Pablo Picasso, erklärt Brucic. Betrachtet man den Arm genauer, fallen einem etliche Narben auf. Das seien Verletzungen, die Apakidze sich selbst durch Ritzen zugefügt habe. Auf diese Weise habe er die Erlebnisse des Krieges verarbeitet, weiß Brucic. "Magersucht und Depressionen kamen später noch hinzu", so die Fotografin, die mit dem Künstler in engem Kontakt steht.
Für Bischof Glettler passe das Bild des verwundeten Menschen genau in die Passionszeit. "Wir sehen darauf einen Menschen, der leidet." Diese Fotografie sei daher ein Leidensbild unserer Zeit, ergänzt er. Schwäche zu zeigen, mache uns menschlicher.
Der Künstler und Kurator Apakidze ist zurzeit auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine und will sich in Deutschland in Sicherheit bringen. Er hoffe, dass er dann dort länger bleiben könne, um an seiner Kunsaustellung zum Thema "Frieden und Demokratie" zu arbeiten, sagt die Künstlerin Brucic. Sie selbst habe ihn samt Gruppe für den Sommer 2022 zu einer Performance nach Österreich eingeladen.
Auf der Fotoinstallation in der Kirche streckt Apakidze seinen Arm nach oben, so, als würde er mit dem Körper den Buchstabend "V" bilden. Das könnte für "Victory" – also "Sieg" – stehen, so Glettler. Er sehe den Menschen auf dem Bild als einen, der seine ganze Kraft sammle, um zu überleben. Das temporäre Altarbild von Carmen Brucic stimuliere daher unser Mitempfinden, aber auch alle Kräfte in uns, die wir zum Aufstehen benötigen, ist sich der Innsbrucker Bischof sicher. So könne man durch dieses Altartuch die Fastenzeit als eine Zeit von der Erschöpfung hin zu neuer, österlicher Kraft verstehen.
Die Kunstfotografin Carmen Brucic
Carmen Brucic, 1972 in Gnadenwald geboren, lebt und arbeitet in Tirol und Wien. Sie studierte Angewandte Kunst sowie Neue Medien an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Seit 2001 entwickelt Brucic künstlerisch wissenschaftliche Formate, in denen es ihr vor allem um die Wahrnehmung menschlicher Verwundbarkeit geht. Ihre künstlerischen Arbeiten wurden bisher in Österreich, Slowenien, Deutschland, der Schweiz, Belgien, Mexiko sowie in den USA gezeigt.