Krieg in Mariupol: Marias Stadt in Trümmern
Von der Hafenstadt Mariupol sind Ende März fast nur noch rauchende Trümmer übrig. Die russischen Angreifer haben sogar eine Geburtsklinik und das Stadttheater bombardiert, in dem rund 1.300 Zivilisten Zuflucht gesucht hatten: Hunderte sind in seinen Kellern begraben. Nichts aber kann das reiche christliche Erbe der Stadt auslöschen.
Die heutige Ruinenstadt Mariupol, griechisch Marioupolis, wurde erst 1780 gegründet. Sie führt aber die sehr viel ältere Tradition der noch geeinten Kirche von Ost und West weiter. Die Halbinsel Krim und die Küsten des Asowschen Meeres bevölkerten im Altertum zahlreiche griechische Handelskolonien, die später ins Römerreich einbezogen wurden. Nach der Legende war Papst Klemens I. (ca. 50-100 n. Chr.) dorthin verbannt. Jedenfalls fanden die späteren byzantinischen Slawenapostel Kyrill und Method 860/61 am Schwarzen Meer seine Gebeine und machten sie bei ihrer Rom-Reise 867 Papst Hadrian II. als Reliquie zum Geschenk.
In der Völkerwanderung hatte sich ein Teil der Ostgoten um das Asowsche Meer niedergelassen. Schon 404 erbaten die Schwarzmeer-Goten aus ihren zum Teil bis heute erhaltenen Burgen einen Bischof aus Konstantinopel. So entstand eine "Metropolis Gothia", die 1781 nach Mariupol transferiert wurde. Politisch überlebte ein Teil von ihr, das Fürstentum Theodoro, sogar bis 1475 das byzantinische Kaiserreich nach dem Fall von Konstantinopel 1453.
Religiöse Toleranz über Jahrhunderte
Bei der Aufteilung des Byzantinischen Reichs nach dem Vierten Kreuzzug (1202-1204) fielen seine "gotischen" Besitzungen an die Genueser. Die Metropoliten von Gothia fügten darauf ihrem Titel noch das genuesische Handelszentrum Kaffa (Feodossia) hinzu. Genua errichtete zwar eine römisch-katholische Kirchenprovinz "Vosporo", verhielt sich aber zu den Orthodoxen vergleichsweise tolerant. Der 1332 zum Erzbischof von Vosporo bestellte Dominikaner Franz von Camerino gestattete die Niederlassung von Griechisch-Orthodoxen in wichtigen Städten, was ihnen bis dahin verwehrt war.
Vom späten 15. bis Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte die vorher byzantinischen bzw. genuesischen Gebiete rund ums Asowsche Meer das "Chanat der Krim" als osmanischer Vasallenstaat. Diese "Krim-Tataren" waren religiös recht entgegenkommend, vor allem was die orthodoxen Griechen betraf. Erst im Vorfeld der russischen Annexion des Chanats von 1783/84 begann sich die Lage der Schwarzmeergriechen zu verschlechtern. In der Tatarenhauptstadt Bachtschissarai wurden sie zunehmend als orthodoxe Glaubensbrüder der Russen betrachtet und behandelt.
Ihre Bedrängnis wurde desto größer, je näher sich die Truppen von Zarin Katharina II. dem Machtbereich des Chans näherten. Der Metropolit Ignatios (1771-1786) entschloss sich daher, seine etwa 15.000 Gläubigen dessen Herrschaft zu entziehen und geschlossen an die damals weitgehend unbewohnte Nordküste des Asowschen Meeres "umzusiedeln".
Im April 1777 verkündete er diesen Plan, worauf ihn seine Gläubigen als "neuen Moses" feierten, der sein Volk aus der Knechtschaft herausführe. Insgesamt sollten 20 griechische Dörfer und in ihrer Mitte am Meer ein städtisches Zentrum entstehen. Sein Vorschlag, diesen Ort dem Schutz Marias anzuvertrauen und daher "Marienstadt" (Mariupol) zu nennen, wurde begeistert aufgenommen. Zum zweiten Patron wählte Ignatios den heiligen Georg, dessen wundertätige Ikone aus dem 12. Jahrhundert er aus Bachtschissarai übertrug.
Vereinnahmung durch die russisch-orthodoxe Kirche
Im Frühjahr 1780 wurde mit dem Bau von Mariupol angefangen. Schon 1783 begann ihre Industrialisierung mit einer Ziegelei, der bald zwei weitere folgten. Dazu kamen Gießereien und andere Hüttenwerke, die schon damals die Grundlage für die spätere Entwicklung des "Donbass" zur Schmiede des Zarenreichs und der Sowjetunion legten. Wohltätig wirkte sich auch eine Regionalautonomie aus, die Mariupol und Umgebung gleich 1780 bei ihrer Eingliederung nach Russland gewährt wurde. Weniger erfreulich war schon zwei Jahre nach dem Tod von Metropolit Ignatios 1786 die Vereinnahmung seines Sprengels durch die russisch-orthodoxe Kirche – die das Ökumenische Patriarchat in Konstantinopel nie anerkannt hat.
Noch einmal schien eine politische und kirchliche Dominanz der Griechen um Mariupol verwirklicht zu werden: Ab Dezember 1918 nahm die erste griechische Armee am Ukraine-Feldzug der Franzosen gegen die vordringenden Bolschewiken teil. Das Unternehmen musste aber schon im März 1919 erfolglos abgebrochen werden. Die Griechen von Mariupol ließen sich nicht für die "imperialistische" Invasion begeistern, sondern sympathisierten mit der neuen sowjetischen Ordnung.
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Dasselbe taten sie dann im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1943. Die rege Partisanentätigkeit um Mariupol wurde hauptsächlich von ihnen getragen. Auch in den dem Krieg folgenden 45 Jahren bis zur "Wende" von 1989/90 blieben die meisten Schwarzmeergriechen brave Sowjetbürger.
Kirchlich wurde Mariupol in der Nachkriegszeit aus der Liste der Bistümer des Moskauer Patriarchats gestrichen, verlor sogar seinen Namen und gehörte bis 1995 zur Metropolie "Donezk und Slawjansk". Erst dann wurde es wenigstens unter seinem richtigen Namen angeführt. Kein Wunder, dass das nach der Wende von Moskau gelöste "Kiewer Patriarchat" den Russlandgriechen Epiphanios Dimitriou zum Bischof in Mariupol kürte.
Drei orthodoxe Bischöfe in Mariupol
Sein heutiger Nachfolger ist ebenfalls ein Grieche, Metropolit Chrysostomos Kalis. Dimitriou wechselte nach Errichtung der "Autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine" durch den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. zu dieser über und wurde 2019 neu zum Bischof von Olvia für alle Griechen der Ukraine mit Sitz in Mariupol ernannt.
So amtierten dort zu Beginn des russischen Angriffs Ende Februar gleich drei orthodoxe Bischöfe: von der moskautreuen Kirche, dem "Nationalpatriarchat Kiew" und der Konstantinopler "autokephalen Kirche". Alle drei konnten die Zerstörung wichtiger religiöser Zeugnisse in der Stadt nicht verhindern.
So ist die bis zum Krieg in Mariupol verehrte "Georgs-Ikone von Bachtschissaraj" inzwischen verschollen. Ebenso die Reliquien des heiligen Ignatios, von denen wenigstens ein Teil 2016 auf seine griechische Heimatinsel Kythnos gerettet wurde. Zersplittert das Denkmal von Metropolit Ignatios vor dem Griechischen Kulturinstitut, aber auch jenes an der Straße nach Berdjansk, das erst 2018 errichtet worden war. Nur drüben in Donezk hebt noch aus dem 140-jährigen Eisenhüttenwerk Metallurg die 2004 geweihte Ignatios-Kirche ihre vergoldeten Kuppeln wie ein Gebet um Frieden zum Himmel.