Ermächtigung der Ohnmächtigen: Klage und Fluch im Gebet
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Die letzten Worte Jesu am Kreuz stehen als Synonym für seine Passion – selbst, wenn sie nur in zwei der vier Evangelien vorkommen. Sie sind Ausdruck der äußersten Verzweiflung, die ein Mensch nur erleben kann. Durch die Liturgie der Karwoche ziehen sie sich wie ein roter Faden: vom Priester vorgetragen oder von einem Kantor gesungen, als Antiphon in der Messe oder als Klagegesang in den Trauermetten.
Jesu letzte Worte sind die ersten des 22. Psalms. In einer langen Reihe von Schreckensbildern beklagt der Psalmist darin, was ihm widerfahren ist: "Hingeschüttet bin ich wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder … Denn Hunde haben mich umlagert, eine Rotte von Bösen hat mich umkreist. Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt" (V. 15ff). Als Kern der Klage aber schwebt über allem die Erfahrung der Gottverlassenheit: "Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe" (V. 3).
Während des liturgischen Jahres ist die Klage als Gebetsform weniger präsent als in der Karwoche, was leicht über den Umstand hinwegtäuscht, dass das Klagelied die häufigste Gattung im Buch der Psalmen ist. In der altehrwürdigen Sammlung folgen viele Dichtungen demselben Muster: Nach der ehrfürchtigen Anrufung Gottes zu Beginn schildern die Beterinnen und Beter ihre Not und beklagen ihre Ohnmacht. Wie auch in Psalm 22 folgt zum Ende hin das erneute Vertrauensbekenntnis und die Erinnerung an Gottes bisherige Taten. Der Wechsel von der ausgedrückten Gottverlassenheit zur Rettungsgewissheit umspannt die Klage.
Von der Ohnmacht übermannt
Was aber, wenn dieses Vertrauen nicht mehr besteht? War sich Jesus in seinem äußersten Schmerz der göttlichen Rettung gewiss? Seine letzten Worte in der Passionserzählung des Johannesevangeliums versuchen das nahezulegen. "Es ist vollbracht!", spricht Jesus dort, bevor er sein Haupt neigt, und greift damit den versöhnlichen Schluss aus Psalm 22 auf. In den Evangelien nach Markus und Matthäus bleibt diese Gewissheit dagegen aus. Hier endet Jesu irdisches Leben in Verzweiflung und Schmerz.
Auch andere biblische Figuren werden von ihrer Ohnmacht übermannt. Dann schlägt die Klage über in Fluch – gegen den abwesenden Gott, gegen die eigenen Feinde und alles Leben um einen herum. Ijob ist eine dieser Gestalten. Das dritte Kapitel des gleichnamigen Buches ist ein einziger Fluch: Der zu Unrecht mit Krankheit und Verderben gestrafte Ijob verflucht seine eigene Geburt und wünscht sich zurück ins Nichts. Bleibt da noch etwas neben dem reinen Zerstörungswillen? Kann das Fluchen gar ein legitimer Ausdruck des Gebets sein?
Die Berner Bibelwissenschaftlerin Silvia Schroer meint: Ja. Gerade in seiner Verzweiflung und seinem Zorn zeige sich, "dass dieser Ijob nicht nur ein Leidender, sondern zugleich ein Aufständischer ist", schreibt die Professorin für Altes Testament in einem Beitrag für die Schweizerische Kirchenzeitung. Nach biblischem Verständnis schaffe der gesprochene Fluch genauso Wirklichkeit wie der Segen. Während dieser Merkmal der Schöpfung sei und Leben hervorbringe, stehe jener für Chaos und Vernichtung.
In der biblischen Welt hatten Flüche eine juristische Funktion: Sie sollten dort für Gerechtigkeit sorgen, wo verborgene Taten sonst ungeahndet geblieben wären.
Dabei betont Schroer die juristische Funktion, die dem Fluch in der biblischen Welt zukam: Zu einer Zeit, in der es noch keinen Rechtsstaat gab, der für Ordnung sorgen konnte, war die Gemeinschaft darauf angewiesen, dass Vergehen, die im Verborgenen geschahen, auf anderem Weg geahndet wurden. Ein Beispiel für dieses Verständnis bietet die Fluchliste am Ende des Buches Deuteronomium. Bevor das Volk Israel in das gelobte Land zieht, wird es von Mose verpflichtet, bestimmte Verbrechen dem Fluch anheim zu stellen: "Verflucht, wer einem Blinden den falschen Weg weist. Und das ganze Volk soll rufen: Amen. Verflucht, wer das Recht der Fremden, die Waisen sind, und das der Witwen beugt. Und das ganze Volk soll rufen: Amen." Die Strafe Gottes hat in dieser Aufzählung auch zu fürchten, "wer den Grenzstein seines Nachbarn verrückt" oder wer Ehebruch und Unzucht begeht (Dtn 27,15ff).
Aber nicht nur im juristischen Kontext, auch als poetische Gebetsform kennt das Alte Testament den Fluch. So enthalten drei der insgesamt 150 Psalmen so umfangreiche Verfluchungen, dass sie gemeinhin als Fluchpsalmen bekannt sind. Ihr Sprachduktus entspricht kaum dem, was man aus den biblischen Liedern sonst gewohnt ist: "Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Mund! Herr, zerschlage das Gebiss der Löwen! Sie sollen vergehen wie verrinnendes Wasser, wie die Schnecke, die sich auflöst in Schleim; wie eine Fehlgeburt sollen sie die Sonne nicht schauen … Wenn er die Vergeltung sieht, freut sich der Gerechte, er badet seine Füße im Blut des Frevlers" (Ps 58,7-11).
Gott behält das letzte Wort: Fluchen als Selbstzähmung
Wer diese Verse zum ersten Mal liest, braucht sich nicht zu wundern: 1971 entschied man, die Psalmen 58, 83, 109 zur Gänze aus dem Stundengebet und der Messliturgie zu streichen. 16 weitere wurden gekürzt. Laut der damals erlassenen Allgemeinen Einführung in das Stundengebet erfolgten die Textauslassungen "wegen gewisser psychologischer Schwierigkeiten". Darunter fielen etwa die Verse 7-9 aus Psalm 137: "Tochter Babel, du der Verwüstung Geweihte: / Selig, wer dir vergilt deine Taten, die du uns getan hast! Selig, wer ergreift und zerschlägt am Felsen deine Nachkommen!"
Für Silvia Schroer ist die Problematik solcher Gebete aus heutiger Sicht nicht wegzuwischen. "Gottes Gerechtigkeit und menschliche Selbstgerechtigkeit werden leicht verwechselt. Aber damals blieb denen, die keinen Einfluss und keinen Besitz hatten, das Recht oft verwehrt." Die Theologin sieht in den Fluchpassagen eine Kanalisierung des Zorns und der Gewalt: Die Betenden würden nicht selbst zur Vergeltung des Leids schreiten, sondern an Gottes Gerechtigkeit appellieren, damit nicht blinder Hass herrsche, sondern er die Macht des Bösen zähmen möge. Im Fluchen würden sich die Opfer "Gott anvertrauen und ihm die Sanktion überlassen und nicht selber zum Dolch greifen."
In diesem Verständnis sieht die Pastoraltheologin Ursula Silber auch einen Anknüpfungspunkt des Fluchgebets für die heutige Zeit. In einem Vortrag zur Problematik der Fluchpsalmen betonte die Rektorin des Aschaffenburger Martinushauses die Notwendigkeit einer anschaulichen Bildsprache im Gebet: Weil Gewalt ein Teil der Realität sei, brauche die Gebetssprache auch heute Bilder, um diese auszudrücken, wenn sie ihren Wirklichkeitsbezug nicht verlieren wolle. Dabei könne auch das Fluchen eine legitime Form sein, die eigene Angst auszusprechen und sich von ihr "freizubeten" – insbesondere als Stimme der Ohnmächtigen, denen kein anderer Weg bliebe.

Gewalt ist Teil der Wirklichkeit – das müsse auch Ausdruck in der Bildsprache des Gebets finden, sagt die Pastoraltheologin Ursula Silber.
So widerständig die Texte auch wirken, bieten sie gerade wegen ihrer bildgewaltigen Sprache die Möglichkeit, sich mit den Opfern verschiedenster Formen von Gewalt und Unterdrückung zu identifizieren. Um diese pädagogische Funktion zu stärken, plädiert Silber etwa für ein feministisches "re-reading" (erneutes Lesen) der biblischen Texte: Da die Autorenschaft der Psalmen offen ist, könnten die Lieder als Stimmen von Frauen gelesen werden und Identifikationsgeschichten für heutige Schicksale sein. Die heilende Wirkung des "Freibetens" kann auch in der Fortschreibung der Psalmtradition liegen:
"Ich fordere Deine Gerechtigkeit Gott / hilf mir tritt Du für mich ein / lass ihn zittern vor Angst diesen Kinderseelenmörder / zu einem Nichts schrumpfen soll seine Seele.
Du sollst mein Racheengel sein Gott / hilf mir tritt Du für mich ein / lass ihn nicht davonkommen diesen ehrbaren Schrebergärtner / erfinde die Hölle neu für ihn."
Die Autorin dieser Verse, Carola Moosbach, ist Überlebende sexueller Gewalt. Ihr Gebet ist von tiefem Hass geprägt, es fordert heraus – und doch hat es seine Berechtigung angesichts des Schicksals, das aus ihm spricht. "Fluchen ist ein Mittel gegen die Ohnmacht, die Verbitterung. Wer flucht, rechnet mit Gott und stellt Gott anheim, das Blatt auch wieder zu wenden. Unrecht und Enttäuschungen sollen nicht das letzte Wort behalten, aber auch nicht Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstjustiz", schreibt Silvia Schroer.
Die Selbstermächtigung der Ohnmächtigen
Entscheidend sei, dem eigenen Gebet keine magische Wirkung zu unterstellen, sondern Gott als Handelnden im Blick zu behalten, wie es bereits dem Verständnis des Alten Testaments entspreche: "Menschen haben keine autonome Macht beim Segnen oder Fluchen, sie stehen dabei in einem Dienst. Wenn sie wirklich im Sinne Gottes handeln oder sprechen, wird sich das zeigen, und dann hat ihr Handeln und Sprechen Kraft und Wirkung. Wenn nicht, dann verfliegen Flüche ohne Folgen."
Das Befremden gegenüber dem fluchenden Gebet bleibt trotzdem – und wohl zu Recht. Wir kennen das Gebet als positive Kraft und können doch nicht verleugnen, auch die negativen Affekte im Inneren unserer Selbst zu kennen. Die Vielfältigkeit der biblischen Gebetstradition macht aber auch deutlich: Wir müssen uns diese Regungen nicht kategorisch verbieten, müssen nicht in jedem Moment immer das Ganze im Blick haben. Es gibt auch die legitimen Momente des Klagens und Fluchens – dann, wenn unsere eigene Kraft nicht mehr zu guten Gedanken reicht. Wir dürfen das verfluchen, was auch Gott verflucht: das Ausbeuten, Kriegstreiben, Morden. Die Selbstermächtigung der Ohnmächtigen kann der erste Schritt sein, dass sie seinem Segen wieder vertrauen.