Mit den Psalmen das Klagen lernen
Gott hat die Menschen vergessen. Er schweigt. Weder sieht noch erhört er uns – schläft er oder hat er sich von den Gläubigen bewusst abgewendet? Diese Vorwürfe sind – wenn sie in direkter Anrede zu Gott gesprochen werden – keine Aufforderung zum Atheismus, sondern Keimzelle des Betens, das der Psalter lehrt. Gott anzuklagen, ihm die eigene Situation zu beklagen und ihm gegenüber Widersacher zu verklagen, ist die biblische Antwort auf eine Erfahrung der Welt, die im Kontrast zum eigenen Glauben steht. Insbesondere die Anklage Gottes stellte in der damaligen Welt wie auch heute angesichts des fernen, als abwesend erlebten Gottes eine grundlegende Möglichkeit des Betens dar – und sie ist aufgrund göttlicher Zusage und biblischer Erfahrung gegeben. Gott hört das Klagen Israels in Ägypten, den Hilfeschrei des Volkes, und er führt es aus der Sklaverei in die Freiheit (siehe Exodus 2,23-25). Mose verkündet im Buch Deuteronomium, dass Gott seinen Gläubigen nahe und zugewandt ist (siehe Deuteronomium 4,7-8) – dies bewahrheitet sich auch direkt am Anfang des Psalters, im ersten Psalm, der als Anrede zu Gott formuliert ist: "Ich habe laut zum HERRN gerufen; da gab er mir Antwort von seinem heiligen Berg." (Psalm 3,5).
Dem als abwesend oder gar feindlich erlebten Gott kann man sich schweigend ergeben oder sich von ihm abwenden. Das Buch der Psalmen lehrt einen alternativen Weg: das Konfliktgespräch, in dem die Beziehung zu Gott trotz allem nicht aufgegeben wird. So ruft auch Jesus klagend gemäß den Evangelisten Markus und Matthäus am Kreuz mit den Worten aus Psalm 22,2: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Markus 15,34).
Gott als Feind?
Das Klagen ist wie ein Tappen eines Menschen, der im Dunkel des Leids und des Unheils nicht mehr weiter weiß. Eindrucksvoll legt uns diese Art des Betens das letzte Wort von Psalm 88 in den Mund – am Ende steht kein Lob, kein Dank, nicht einmal eine Bitte. In der revidierten Einheitsübersetzung wird der letzte Vers dieses Psalms folgendermaßen wiedergegeben: "Entfernt hast du von mir Freunde und Nachbarn, mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis." Doch wörtlich steht im hebräischen Text eine Feststellung, die abrupt in einem Aufschrei endet: "Du hast entfernt von mir Freund und Gefährte, meine Vertrauten – Finsternisort!" Der Beter klagt zu Gott, dass für ihn überall nur noch Finsternis, für die Gott verantwortlich ist, herrscht. Finsternis bedeutet Lebenswidrigkeit. Licht und Finsternis stehen im alttestamentlichen Sprachgebrauch einander gegenüber wie Kosmos und Chaos, Leben und Tod. Der Beter von Psalm 88 ist am Ende weit entfernt von dem Gotteslob, das zum Beispiel am Anfang von Psalm 27 erklingt: "JHWH ist mein Licht und mein Heil." Nein, er erlebt Gott als Feind und die Notschilderung ist vielschichtig. Es wird Krankheit, Gefangenschaft, Einsamkeit, Rechtlosigkeit, Ausweglosigkeit, Gottverlassenheit und somit Todesbedrohung beklagt. Kurzum: aus der Perspektive von Psalm 88 hat sich die gesamte Welt in Unheil gewandelt und das gesamte Gebet ist eine Anklage Gottes: Mitten im Leben gilt der Beter bereits als einer der Toten, "derer du nicht mehr gedenkst, sind sie doch abgeschnitten von Deiner Hand." (Vers 6).
Mit deutlichen Worten wird Gott für sein Handeln angeklagt: "Auf mir lastet dein Grimm, mit all deinen Wogen drückst du mich nieder." (Vers 8). Doch diese Art des Betens, des Klagens und der Notschilderung ist kein Jammern, sondern Protest. Das Gebet und die Klage sind Ausdruck des Willens zum Leben. Das Leid wird nicht stillschweigend akzeptiert, sondern in der Finsternis tappend wendet sich der Beter Gott zu und klagt eine Antwort ein: "Warum, JHWH, verstößt du mich, verbirgst vor mir dein Angesicht?" (Vers 15). Die Klage ist somit im Leid das kontrafaktische Vertrauen darauf, dass der geglaubte Gott – wie am Anfang des Psalms bekannt – sich doch noch als "Gott der Rettung" (Vers 2) erweisen wird. Entgegen der eigenen persönlichen Erfahrungen wird Gott nicht aufgegeben, sondern es wird an der Beziehung zu ihm gearbeitet. Der Beter, vom Tode bedroht, will im Angesicht Gottes leben, ihn loben und preisen – das wird in Psalm 88 eingeklagt; und wenn Gott nicht handelt, beraubt er sich damit selbst eines Verehrers und Zeugen seiner Macht (siehe Verse 11-13). Psalm 88 verdeutlicht, dass die Klage der menschliche Hilfeschrei hin zur glückenden Beziehung mit Gott und zum Leben ist.
Das Gebet zu Gott ist eine dauernde Bewegung zwischen Klage und Bitte auf der einen Seite und Dank und Lob auf der anderen Seite. Das Buch der Psalmen führt die Beter am Ende zum Lob, aber der Weg dahin geht durch ein Meer von individuellen und kollektiven Klagen: über politische oder prophetische Verfolgung; über Rechtsnot, über Krankheit; über Todesnot; dazu gehören auch Armenpsalmen mit ihrem kollektiven Leiden an der Gesellschaft, Bußpsalmen mit dem Leiden an der eigenen Schuld und vieles mehr. Ein Drittel der Psalmen kann als Klagegebete definiert werden. Anders als in Psalm 88 entwächst in diesen Psalmen der Klage jedoch eine Bitte – und selbst diese hat nicht das letzte Wort.
Psalm 13 gilt als "Muster eines 'Klageliedes des Einzelnen', in dem die einzelnen Bestandteile der Gattung besonders deutlich auseinandertreten": (1.) Anrufung des Gottesnamens; (2.) Klage in der Form einer Notschilderung; (3.) Bekenntnis des Vertrauens und der Zuversicht; (4.) Bitte um Errettung; (5.) Lob bzw. Lobgelübde. Indem die betende Person Gott klagend gegenübertritt, oder ihn gar anklagt, ist der erste Schritt des Menschen zum Lob getan. Anhand der ersten Verse von Psalm 13 kann man biblisch klagen lernen.
Am Anfang der Klage steht die Anrufung Gottes. Selbst in größter Verlassenheit bleibt es bei dieser direkten Anrede des persönlichen Schutzgottes. In ihr kommt sowohl das Vertrauen als auch die Erinnerung an den einstigen Gott der Rettung zum Ausdruck. Schon dieser Ausruf ist ein Bekenntnis: für den Beter ist es JHWH allein, in den er sein Vertrauen setzt. Anders als in babylonischen Gebeten, die mit langen hymnischen Anreden als captatio benevolentiae gegenüber der angerufenen Gottheit einsetzen, genügt in den biblischen Klagegebeten meist der Gottesname "JHWH" oder die Anrede "mein Gott", um sich der göttlichen Gunst versichert zu wissen. Bereits der Auftakt der Klage macht so deutlich, dass es nicht um ein "weg" von JHWH geht, sondern um ein "hin" zu ihm. In Psalm 13 ist die direkte Anrede Gottes bereits Teil der Klage: "Bis wann, JHWH, wirst Du mich auf Dauer vergessen? Bis wann wirst du dein Gesicht vor mir verbergen?" (Vers 2). Die Notlage wird theologisch als Gottesferne interpretiert und somit wird die Frage nach dem dunklen und rätselhaften Handeln Gottes gestellt. Dass Gott jemanden "vergisst" bedeutet nicht, dass Gott einen beiläufigen Fehler gemacht hat, sondern dass er so handelt, als ob er den Beter nicht mehr kennt, ihn nicht mehr beachtet, sich von ihm distanziert. Die Schärfe dieses Vorwurfs wird deutlich, wenn sie in einem anderen Psalm den Gottlosen in den Mund gelegt wird: "Er sagt in seinem Herzen: Gott hat vergessen, hat sein Angesicht verborgen, niemals sieht er." (Psalm 10,11). Doch, während die gottlose Person sich mit diesen Worten von Gott abgewendet hat, hofft der Beter, indem er so zu Gott spricht, auf Rettung.
Die Klage als Bitte
Die in Psalm 13 darauffolgenden Klagen bedenken dann die Konsequenzen aus der Gottesferne für die Person und deren Beziehung zur Welt: "Bis wann muss ich sorgenvolle Gedanken tragen in meinem Leben, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Bis wann erhebt sich mein Feind über mich?" (Vers 3). In dieser Triade der Notschilderung, die Gott, die Feinde und das Ich des Beters umfasst, kommt das ganzheitliche Denken des Menschen im Alten Israel zum Tragen: heute spräche man von den Bereichen "Theologie" (Gott), "Psychologie" (Ich) und "Soziologie" (Feinde). Die Wiederbelebung der Klage in der heutigen Gebetspraxis der Kirche böte die Chance, den konkreten Menschen ganzheitlich in seinen religiösen, sozialen und psychologischen Dimensionen ernst zu nehmen. Gerade in der Klage darf, soll und muss der Leidende selbst zu Wort kommen. In ihr wird er vom Objekt zum Subjekt, das seine Not beim Namen nennt. Hierbei überrascht die Nennung von Feinden. – doch sie verdeutlicht, dass durch die Gottesferne die gesamte Welt der betenden Person ins Wanken geraten ist und eine gerechte Weltordnung fehlt. Sie soll wiederhergestellt werden, in dem Gott, die in Psalm 13 vierfachgestellte Frage "Bis wann …?" beantwortet. Diese klagende Frage ist schon selbst eine indirekte Bitte, dass der ferne Gott wieder seine heilvolle Nähe erfahrbar machen solle. Aus der Klage entwächst so auch in Psalm 13 die Bitte: "Schau her, antworte mir, JHWH, mein Gott! …. ". In vielen Klagegebeten zeigt sich, dass die Klage oft nichts anderes ist als eine "negative Bitte", wie zum Beispiel in Psalm 27,9: "Verbirg Dein Angesicht nicht vor mir! Weise deinen Knecht nicht ab in Zorn! Du wurdest meine Hilfe. Verstoß mich nicht, verlass mich nicht, du Gott meines Heils!"
Die Anklage Gottes, das Sich-Beklagen und das Verklagen der Feinde findet sich ebenso auch in den sogenannten Volksklagen des Psalters, für die Psalm 79 ein Musterbeispiel ist und dem Aufbau der Klagelieder der Einzelnen entspricht. In ihnen erklingt häufig die Fragen, wozu Gott das Leid zulässt und wie lange das Unheil noch andauern werde. – Bemerkenswert ist, dass anhand einer Stelle im Buch des Propheten Joel, die Bedeutung der Klage für eine Glaubensgemeinschaft liturgisch vor Augen geführt wird. Israel wird im Angesicht einer Krise zur Umkehr zu Gott mit Fasten, Weinen und Klagen aufgerufen und es erklingt der Aufruf: "Versammelt das Volk, heiligt die Gemeinde! Versammelt die Alten, holt die Kinder zusammen, auch die Säuglinge! Der Bräutigam verlasse seine Kammer und die Braut ihr Gemach. Zwischen Vorhalle und Altar sollen die Priester klagen, die Diener des HERRN sollen sprechen: Hab Mitleid, HERR, mit deinem Volk und überlass dein Erbe nicht der Schande, damit die Völker nicht über uns spotten! Warum soll man bei den Völkern sagen: Wo ist denn ihr Gott?" – und dann wird erzählt, dass Gott sich seinem Volk erbarmte. Mit Blick auf Joel 2,12-18 lässt sich fragen, warum das Klagegebet, wie es der Psalter lehrt, heute anscheinend keinen Platz mehr in den christlichen Gottesdiensten – und oft auch nicht mehr in der persönlichen Frömmigkeit – hat.