Seelsorger für Missbrauchsbetroffene: Lehne Begriff "Täterkirche" ab
Der künftige Leiter der neuen Stabsstelle zur Beratung und Seelsorge für Missbrauchsbetroffene im Erzbistum München und Freising, Pfarrer Thomas Semel, lehnt den Begriff "Täterkirche" für die katholische Kirche ab. "Damit werden alle Priester über einen Kamm geschert. Die meisten Priester tun aber mit Herzblut und großem Respekt vor den Menschen ihre Arbeit", sagte Semel, der im Alter von 9 bis 13 Jahren selbst von einem Pfarrer missbraucht wurde, am Donnerstag in einem Interview des "Münchner Merkur". Auf die Frage, wie er nach seiner eigenen Missbrauchserfahrung in der Kirche habe bleiben können, betonte der 54-Jährige: "Es sind zwei Dinge zu trennen. Meine persönliche Erfahrung und auf der anderen Seite meine Berufung, mein priesterlicher Weg. Ich gebe dem Täter keine Macht über mich, ich lasse mir nicht mein Leben und das, was mir wichtig ist, nehmen."
Sein heutiger Umgang mit seiner eigenen Missbrauchserfahrung sei durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg und im oberbayerischen Kloster Ettal geprägt worden. Als die Fälle 2010 öffentlich geworden seien, sei er Pfarrer in Bad Kohlgrub in der Nähe von Ettal gewesen. "Dort habe ich die Unsicherheit und Sorge von Eltern erlebt, deren Kinder das Gymnasium besuchten. Irgendwann ließ mich das Thema nicht mehr in Ruhe, und ich wunderte mich, dass ich plötzlich schlaflose Nächte hatte. Da kam an die Oberfläche, was Jahrzehnte verschüttet war", so Semel. Bei ihm sei eine Schublade aufgegangen und der Blick hinein sei "alles andere als schön" gewesen. Zuerst habe er gedacht, er könne das für sich selbst aufarbeiten; er habe jedoch erkennen müssen, dass das nicht geht. "Ich habe mir psychologische Hilfe gesucht. Ich kann nur jedem raten, sich nicht davor zu scheuen, Hilfe anzunehmen. Mit einem guten Psychologen begann ein neuer Abschnitt. Ich kann heute sagen, was geschehen ist, ist ein Teil meiner Biografie", betonte der Geistliche.
"Der Verlust des Glaubens ist für viele Betroffene eine offene Wunde"
Die Intention für seine Berufung als Seelsorger für Missbrauchsbetroffene im Erzbistum München und Freising sei von Personen aus dem Münchner Betroffenenbeirat gekommen, dem Semel auch selbst angehört. "Es wurde relativ schnell klar, dass der Verlust des Glaubens und der religiösen Heimat für viele Betroffene eine offene Frage oder sogar eine offene Wunde ist", sagte der Pfarrer. Die Erzdiözese biete zwar psychologische und juristische Unterstützung für Missbrauchsopfer an. Es habe sich aber gezeigt, dass sich Betroffene auch eine Form der Seelsorge wünschten. Seine künftige Aufgabe bezeichnete Semel in der Zeitung als "Pilotprojekt". Er werde viele Einzelgespräche führen und vielleicht auch in Pfarreien gehen, in denen es Missbrauch gegeben habe. "Teil meiner Aufgabe ist das Mitgehen vor Ort", betonte der Geistliche.
Das Erzbistum München und Freising hatte im März angekündigt, zum 1. Juni eine Seelsorgestelle für Missbrauchsbetroffene einzurichten. Bundesweit soll es sich dabei um die erste Stelle dieser Art handeln. Die Stelle ist eine Reaktion auf das im Januar veröffentlichte Gutachten über Missbrauchsfälle in der bayerischen Erzdiözese. (stz)