Kölner Regens: Priestertum der Zukunft braucht Bindung an Gemeinschaft
Seit September 2021 ist Regamy Thillainathan (40) Regens des Priesterseminars im Erzbistums Köln. Mit 45 Seminaristen ist es das größte Seminar der Diözesen in Deutschland. Thillainathan spricht über Perspektiven der Priesterausbildung, das Seminar in einem von Auseinandersetzungen geprägten Bistum und ein Selbstbild ohne Selbstverständlichkeiten.
Frage: Herr Thillainathan, beim Synodalen Weg wird über priesterliche Macht, den Zölibat und das Priesterbild diskutiert, gleichzeitig läuft die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen – wie muss unter diesen Voraussetzungen die Zukunft der Priesterausbildung aussehen?
Thillainathan: Natürlich sind das wichtige Fragen, mit denen wir uns auch in der Priesterausbildung auseinandersetzen. Ich denke, wir müssen in der aktuellen Situation an zwei Punkten ansetzen: Einerseits geht es um die Frage, welche Rahmenbedingungen notwendig sind, damit die Kirche ihrem Grundauftrag nachkommen kann. Da geht es um die Pfarrei- und Kirchenstrukturen. Das sind aber Fragen, die wir nicht im Seminar, sondern auf übergeordneter Ebene klären müssen. Andererseits – und das muss ein Seminar leisten – geht es um die Frage, ob die aktuelle Priesterausbildung zeitgemäß ist. Wir müssen die Inhalte immer wieder daraufhin abklopfen, ob wir die Kandidaten damit auf die Situationen vorbereiten, auf die sie auch wirklich treffen – und nicht die, die wir uns wünschen oder die es vor Jahrzehnten mal gegeben hat. Seit dem Konzil von Trient (1545-1563) hat sich das System der Priesterausbildung nicht groß verändert. Damals ging es um die Einrichtung von diözesanen Priesterseminaren. Können wir uns heute vorstellen, dass es neben dem durchaus wichtigen Seminar andere Orte gibt, an denen Priester ausgebildet werden können? Dem will ich mich hier besonders widmen.
Frage: Warum halten Sie Seminare noch für sinnvoll?
Thillainathan: Sie sind sinnvoll, wenn sie nicht alleine stehen. In diesem Jahr haben wir hier im Erzbistum Köln zum ersten Mal die Regel, dass unsere Studenten ab dem zweiten Jahr für mindestens zwei Jahre das Priesterseminar komplett verlassen und in Wohngemeinschaften leben. Drei Jahre sind möglich, zwei aber das Minimum. Das ist mir wichtig, weil ich unter Priestern eine Tendenz zum Einzelkämpfertum erkenne – unabhängig von der Größe der Teams, in denen sie arbeiten. Das will ich in der Ausbildung nicht fördern. Das Priestertum der Zukunft braucht eine Anbindung an eine Gemeinschaft. Das muss nicht zwingend ein Orden oder eine geistliche Gemeinschaft sein. Das können andere Priester oder auch eine Familie sein – Menschen, mit denen man einen gemeinsamen Weg geht, mit denen man einen Alltag hat. Früher gab es das: Wenn es in einem Ort mehr Priester als nur einen Pfarrer gab oder Priester mit einer Haushälterin zusammenlebten, entstand zwangsläufig eine Gemeinschaft. Das bricht heute in größer werdenden pastoralen Räumen weg. Da sehe ich die Gefahr, dass Priester vereinsamen und überfordert werden – und niemand nimmt es wahr. Jesus hat den Menschen ein Leben in Fülle verheißen. Doch es sieht momentan oft so aus, dass die Priester das nicht haben. Ich kenne auch Priester, die alleine in einer großen Seelsorgeeinheit wohnen und gut klarkommen. Das gönne ich jedem – aber es gibt die Gefahr, dass es bei Vielen nicht klappt. Deshalb möchte ich, dass die künftigen Priester Freundschaften schließen und erleben, wie gut es ist, das Leben mit anderen zu teilen.
Frage: Es gibt unter Seminaristen durchaus die Tendenz zum Traditionalismus. Ist das auch eine Folge von Einsamkeit?
Thillainathan: Das würde ich so pauschal nicht bestätigen wollen. Aber: Wenn vieles unsicher erscheint, besteht immer die Gefahr, sich in eine Nische zurückzuziehen. Die Kirche ist genauso im Umbruch wie unsere gesamte Gesellschaft und Priester werden ständig angefragt. Eine Nische – ob sehr konservativ oder sehr progressiv – gibt einem dann Sicherheit und Identität. Ich finde, dass der Priester eine geistliche Beheimatung braucht, aus der er Kraft schöpfen kann und wo er der Empfangende und nicht der Gebende ist. Doch diese Beheimatung darf nicht absolut gesetzt werden. Ein Priester ist in erster Linie Brückenbauer, der die Einheit bewahren und stiften soll. Wer da zur Stolperfalle in der Gemeinde wird, widerspricht völlig seiner Berufung. Wenn ein Seminarist den Spagat zwischen der persönlichen Beheimatung und der Sendung zum Brückenbauer nicht schafft, muss ich als Regens die Frage stellen, ob dieser Mann zum Weltpriester berufen ist. Denn das kann so nicht funktionieren.
Frage: Wie sehr spielt in der Ausbildung die Hochschule eine Rolle? Im Erzbistum Köln gibt es neben der Universität Bonn ja nun auch die bistumseigene "Kölner Hochschule für Katholische Theologie" (KHKT), über deren Zweck und Finanzierung viel diskutiert wird.
Thillainathan: Ich habe hier eigentlich ein Luxusproblem, da die Seminaristen sogar zwei Studienorte zur Auswahl hätten, auch wenn der ordentliche Studienort die Universität Bonn ist. Ich selbst habe in Bonn studiert, habe dorthin bis heute gute Beziehungen und in Dekan Professor Jochen Sautermeister einen persönlichen Freund. Aber auch zu Christoph Ohly von der KHKT habe ich ein gutes Verhältnis. Er kennt als Kölner Priester wie ich die Priesterausbildung aus eigener Erfahrung und unterstützt uns, wo er kann. Ich persönlich finde: Die Priesteramtskandidaten sollen sich für die Hochschule entscheiden, die ihnen als passender erscheint. Ich will Wahlfreiheit für die Seminaristen, kein starres Korsett. Es gibt ganz unterschiedliche Zugänge zum Priestersein, ich will da auf den Einzelnen schauen. Die große Mehrheit der Seminaristen ist an der Universität Bonn. Das ist ihre Entscheidung, die ich selbstverständlich mittrage. Wenn Einzelne sich wegen der kleineren Gemeinschaft oder besonderer sprachlicher Förderung oder Studienschwerpunkt für die KHKT entscheiden, freue ich mich auch über diese Entscheidung.
Deswegen halte ich auch nichts von den Plänen der Deutschen Bischofskonferenz, die Priesterausbildung im großen Stil zusammenzulegen. Wir sprechen immer von studentischer Freiheit, aber unseren eigenen Kandidaten ermöglichen wir das nicht? Ob der Standort dann in Köln oder Bonn ist, wird keine besondere Rolle spielen, wenn die Männer in den Wohngemeinschaften leben.
Frage: Die KHKT gilt als konservative Kaderschmiede – merkt man das den Studierenden dort an?
Thillainathan: Ich haben den Eindruck, dass in die KHKT von außen sehr viel hineinprojiziert wird. Unabhängig davon bin ich der Meinung: Das Studium allein prägt keinen Menschen. Die menschliche Ausbildung, die wir zum Beispiel hier im Seminar haben, entscheidet. Ich habe an der Universität Bonn konservative wie progressive Professoren erlebt – das hat aber nicht dazu geführt, dass ich mich in eine der Ecken einsortieren würde. Die Professoren spielen keine große Rolle, es sind eher die Kommilitonen und die persönlichen Erfahrungen in der Ausbildung, vor allem am Ende in der Gemeinde, die mein Priesterbild prägen. Deshalb bin ich da relativ entspannt.
Frage: Welche Themen halten Sie in der Ausbildung momentan für besonders wichtig?
Thillainathan: Dazu gehört sicher der Umgang mit Macht und Ohnmacht, aber auch Kommunikation und Glaubenskommunikation. Das heißt nicht nur, Social-Media-Kanäle richtig zu bedienen, sondern auch eine Haltung des Hinhörens und der klaren Kommunikation zu entwickeln. Eine andere Facette ist Führung und Selbstorganisation: Wer andere Menschen anleitet, muss sich auch selbst leiten können. Ein roter Faden, der sich durch alles durchzieht, ist der Missbrauch, nicht nur sexuell, sondern auch geistlich: Priester müssen verantwortlich mit der eigenen Funktion, Rolle und Person umgehen können – und sie müssen in der Lage sein, Missbrauch zu erkennen und dem mutig entgegenzutreten.
Frage: Diese Rolle ist ja durchaus zwiespältig: Da ist einerseits die Lehre der Kirche, andererseits die doch oft komplexe Realität. Wie positioniert man sich da als Priester, etwa wenn jemand Geschiedenes wieder heiraten möchte?
Thillainathan: Mir hat mal ein älterer Priester gesagt: "Man kann und darf nur etwas fordern, wenn auch eine Beziehung da ist." Man kann einen Menschen nicht begleiten, dessen Leben und Persönlichkeit man gar nicht kennt. Wenn sich etwa ein Geschiedener vor einer Wiederheirat einem Priester öffnet, gibt es möglicherweise ein Bedürfnis, sich an der Position des Priesters abzuarbeiten oder auch Unterstützung zu erhalten, etwa wegen der kirchlichen Sozialisation. Man muss also diesen Menschen erstmal kennenlernen und die Frage verstehen, die sich dahinter verbirgt. Die Kirche gibt viel zu oft Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. Deshalb ist es entscheidend, erstmal zuzuhören. Es geht nicht darum, dass der Priester kein Profil haben soll oder nur das Kirchenrecht herunterbetet. Er soll Brückenbauer sein und die Menschen mit der Kirche versöhnen. Dafür muss er die Menschen in ihrer Lebenssituation ernst nehmen und Wege suchen. Es geht am Ende nicht darum, dass alle die gleiche Position haben, sondern dass sie auf Augenhöhe im Gespräch bleiben. Es gibt nur eine Grenze: Rassismus, Homophobie und jede andere Form von Diskriminierung darf ein Priester nie unkommentiert stehen lassen. So was hat in unserer Mitte keinen Platz und ist mit der Kirchenlehre unvereinbar.
Frage: Das Erzbistum Köln ist derzeit in unsicherem Fahrwasser: Der Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, steht genauso in der Kritik wie die Missbrauchsaufarbeitung. Ist das im Seminaralltag Thema?
Thillainathan: Wir unterhalten uns schon darüber, diese Themen bestimmen uns aber nicht. Hier wohnen normale Studierende, für die Deadlines für Hausarbeiten, anstehende Prüfungen oder persönliche Herausforderungen deutlich akuter sind. Zudem ist diese Generation an diesen Diskussionen kaum beteiligt; zum Beispiel haben bei der Befragung im Erzbistum Köln zur Weltsynode vor allem Menschen zwischen 50 und 70 Jahren ihre Meinung abgegeben. Die jungen Menschen sind zu weit von der Kirche weg, um sich für solche Themen zu interessieren.
Frage: Aber der Erzbischof ist doch der Vorgesetzte der Priester, die müssen sich doch irgendwie dazu verhalten. Da geht es doch um Loyalität.
Thillainathan: Loyalität setzt eine aufrichtige Kommunikation voraus. Es gibt Foren, in denen die Priesterkandidaten mit dem Kardinal direkt kommunizieren – das ist auch wichtig. Vieles, was momentan passiert, ist ein Schlagabtausch über Dritte oder über Medien. Davon halte ich nicht viel. Wenn es Dinge gibt, von denen jemand möchte, dass sie der Vorgesetzte weiß, soll er sie ihm selbst sagen, damit derjenige darauf reagieren kann. Jemandem nur über die Medien die eigene Meinung kundzutun, zeugt meines Erachtens nicht von einem guten Charakter.
Frage: Aber der Korpsgeist ist doch manchmal genau das Problem, wenn Konflikte unter dem Tisch bleiben, obwohl sie in die Öffentlichkeit müssen.
Thillainathan: Größere Themen müssen in die Öffentlichkeit, das hat mit Transparenz zu tun und ist auch mir ein großes Anliegen. An die Öffentlichkeit gehen sollte meiner Auffassung nach aber nur, wer vorher auch das persönliche Gespräch gesucht hat. Das gebietet die Fairness. Das geschieht allerdings oft nicht – und das ist falsch. Wer im persönlichen Kontakt nicht weiter kommt, darf gern auf die große Bühne gehen, aber dann muss der erste vor dem zweiten Schritt erfolgen. Viele scheuen vor der persönlichen Auseinandersetzung zurück.
Frage: Wie blicken Sie auf den Lebensentwurf des Priesters generell? Muss der tiefgreifend hinterfragt und reformiert werden?
Thillainathan: Ich habe manchmal die Befürchtung, dass bei der Diskussion um den Zölibat manche Aspekte gar nicht oder nur unzureichend angesprochen werden. Sexualität ist da eine Dimension unter mehreren, zu der wir in kirchlichen Kontexten allerdings nicht immer sprachfähig sind. Eine weitere ist der Umgang mit Einsamkeit und Überforderung. Wir müssen in der Ausbildung all diese Aspekte genau anschauen, bevor wir weiter überlegen. Es gibt Verletzlichkeiten im Leben, auch bei uns Priestern. Auch wir scheitern. Damit müssen wir uns ehrlich und ausführlich auseinandersetzen, um zu einem sicheren Lebensentwurf zu kommen. Im Priesterseminar ist man oft viel zu schnell dabei, den Zölibat als Voraussetzung hinzunehmen und einfach nur einen Kurs dazu zu machen. Das ist eine große Gefahr, so ein oberflächlicher Umgang rächt sich später.
Frage: Priester werden oft angefragt in ihrem Lebensentwurf. Können sie zu schnell scheitern, obwohl sie das von ihrem Selbstbild her nicht dürfen?
Thillainathan: Meine besten Freunde sind Muslime und die Hälfte meiner Familie sind Hindus – ich persönlich wurde immer angefragt in meiner Entscheidung, katholischer Priester zu werden. Das hat dazu geführt, dass ich nicht für selbstverständlich halte, was ich hier tue. Auch ich selbst musste mir klar werden, warum ich das alles mache. Selbstverständlichkeiten brechen das Genick, nichts ist selbstverständlich. Es muss für mich verständlich werden, dann kann ich es auch anderen verständlich machen. Eine zu große Selbstverständlichkeit im Leben kann einen Einzelnen unempfindlich für die Anfragen der Welt und für innere Risse machen. Dann ist man überfordert, wenn man scheitert. Da ist es klüger, sich schon früh und aufrichtig mit Anfragen von außen und innen auseinanderzusetzen.
Frage: Blicken wir in die Zukunft: Momentan gibt es das Konvikt in Bonn und das Priesterseminar in Köln, da letzteres aber gerade renoviert wird, sind alle Kandidaten in Bonn. Wie sieht die Zukunft der Priesterausbildung im Erzbistum Köln aus?
Thillainathan: Es ist entschieden, dass die beiden Standorte fusionieren. Noch nicht geklärt ist aber, ob der Standort am Ende in Köln oder Bonn sein wird. Die Frage muss erstmal der Priesterrat beraten. Mir ist der Standort am Ende egal, beide haben Vor- und Nachteile. Ich verlange von den Seminaristen – und auch von der Priesterausbildung und von mir selbst - Flexibilität. Durch die Wohngemeinschaften haben wir ja sowieso eine Vielfalt in den Standorten. Da müssen auch wir flexibler werden: Wenn sich zum Beispiel ältere Männer für den Priesterberuf interessieren, sollten sie vielleicht erstmal in ihrem gewohnten sozialen Umfeld bleiben, bevor sie ins Seminar ziehen. Dann können sie sich noch umentscheiden, ohne gleich alles aufgegeben zu haben.