Halik: Lage der Kirche erinnert an Situation kurz vor der Reformation
Der tschechische Theologe Tomas Halik hat die aktuelle Lage der katholischen Kirche nach der Aufdeckung zahlreicher Missbrauchsskandale mit der Zeit vor der Reformation verglichen. "Vielleicht war der Schock, den die Enthüllung der Pandemie des sexuellen und psychischen Missbrauchs auslöste, eine der dramatischsten Erschütterungen. Wie die Skandale um den Ablasshandel im Mittelalter haben diese Skandale die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen deutlich gemacht. Die heutige Situation der Kirche erinnert an die Situation kurz vor der Reformation", sagte Halik in einem am Freitag veröffentlichten Interview der Zeitschrift "Publik-Forum".
Der Theologe äußerte die Auffassung, dass die bestehende Form des Christentums "ihre Vitalität, ihre Überzeugungskraft, ihre Klarheit und Plausibilität" verloren habe und durch eine andere Form ersetzt werden müsse. In der Geschichte des Christentums habe es viele solcher Veränderungen gegeben. "Heute sind zwei neue Formen im Entstehen begriffen: die nichtkirchliche Spiritualität, der Hauptkonkurrent des kirchlichen Christentums, und die politische Nutzung des Christentums als identitätspolitische Ideologie der extremen Rechten", so Halik. Die von Papst Franziskus angestoßene synodale Reform könne ein dritter Weg sein – "wenn sie gelingt".
Kirche "seit Langem gespalten"
Unter Verweis auf den Papst und dessen Metapher von der Kirche als Feldlazarett sprach Halik in dem Interview von der Notwendigkeit eines Krankenhauses: "Die Kirche als Krankenhaus sollte Diagnose, Therapie, Prävention und Rehabilitation für die Übel unserer Zeit, wie Populismus, Nationalismus, Fundamentalismus, bieten." Zudem sehe er die Kirche als eine "Schule der christlichen Weisheit" nach dem Vorbild der mittelalterlichen Universitäten, die Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden gewesen seien. "Vor allem aber glaube ich an die Umwandlung der Kirche als starre Institution in eine 'Weggemeinschaft'. Aber ich verstehe dies als eine ökumenische Gemeinschaft im weitesten Sinne", betonte Halik.
Die Kirche selbst bezeichnete der Theologe als "seit Langem gespalten". Selbst wenn es gelinge, vernünftige und dialogfähige Christen beider Flügel zusammenzubringen – "eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines künftigen Konzils" –, müsse damit gerechnet werden, dass die Verfechter extremer Positionen auf beiden Seiten die Kirche verließen. Eine "gewisse Prävention" gegen diese Entwicklung könne von denen angeboten werden, die zeigten, "dass die Richtung der Entwicklung nicht nach rechts oder links, sondern in die Tiefe geht". Denn wenn eine Reform der Kirche fruchtbar sein solle, müsse sie eine Dimension der Kontemplation haben. Es reiche nicht aus, nur institutionelle Änderungen oder Anpassungen im Kirchenrecht vorzunehmen, wie manche beim weltweiten Synodalen Prozess meinten. (stz)