Claus: Bei der Betroffenenbeteiligung gibt es immer wieder Kritik
Seit April ist die Journalistin Kerstin Claus Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Im Interview fordert sie einheitliche Standards für die Aufarbeitung und ein Recht auf Akteneinsicht für Betroffene. Eine gesetzliche Grundlage dafür solle es möglichst noch in dieser Legislaturperiode geben.
Frage: Frau Claus, vor zwei Jahren hat Ihr Vorgänger, Herr Rörig, mit der Deutschen Bischofskonferenz die Gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin verpflichtet sich die Kirche zu einer unabhängigen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Sind Sie zufrieden damit, wie es läuft?
Claus: Inzwischen haben die meisten Bistümer unabhängige Aufarbeitungskommissionen eingerichtet und Betroffenenräte etabliert. Spannend wird es am 19. September, wenn die Vorsitzenden der Kommissionen erstmals in größerer Runde zusammenkommen und über ihre Arbeit berichten. Dann bekommen wir einen Anhaltspunkt, ob das die Gemeinsame Erklärung trägt. Schon jetzt kann man sicher sagen, dass wir bei der Betroffenenbeteiligung noch mal schauen müssen. Da gibt es immer wieder Kritik ...
Frage: Viele Bistümer haben Schwierigkeiten, ausreichend Bewerbungen für die Mitarbeit in ihren jeweiligen Betroffenenräten zu bekommen. Der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, sprach bei einer Tagung im Juni davon, dass es nicht angehe, Betroffenen unter der Ägide der katholischen Kirche die Verantwortung für die Aufarbeitung aufzubürden.
Claus: Zu den Vorwürfen von Herrn Castellucci kann ich klar sagen, dass das so nicht stimmt. Eine Übernahme von Verantwortung durch Betroffene ist durch die Gemeinsame Erklärung nicht angelegt. Betroffene sind beteiligt, um mögliche dunkle Flächen auszuleuchten, die ansonsten vielleicht nicht gesehen werden. Kriterien einzubringen und über Standards zu sprechen, heißt nicht Verantwortung zu übernehmen, das müssen die Institutionen. Wir sollten aber gut im Blick haben, ob da innerhalb der Gremien möglicherweise doch Prozesse laufen, die zu einer Instrumentalisierung von Betroffenen führen können.
Frage: Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, dass es so wenige Bewerbungen für eine Betroffenenbeteiligung gibt?
Claus: Meiner Ansicht nach liegt das an einer unzureichenden Ausgestaltung der Kriterien. Die Diözesen müssen sich fragen, ob es reicht, Ausschreibungen nur auf ihrer Homepage zu veröffentlichen, oder ob es wirklich geschickt ist, dass die Bistumsleitung Betroffene direkt anspricht und sie auffordert, sich zu bewerben – denn dann melden sich natürlich eher sehr kirchennahe Menschen, was wiederum die Frage nach der Unabhängigkeit aufwirft. Heterogenität in den Gremien ist aber wichtig, und dafür braucht es eine breite, authentische und möglichst unabhängige Ansprache von Betroffenen. Zudem müssten die Kirchen die Erwartungshaltung an Betroffene und ihre konkreten Aufgaben klarer formulieren und sie besser für ihre Arbeit ausstatten. Dazu gehören verlässliche Regeln und Formate der Beteiligung, die Betroffene wirklich zu einer Mitwirkung befähigen. Gemeinsam mit der Aufarbeitungskommission und dem Betroffenenrat bei meinem Amt befinden wir uns in einem Prozess, wie wir zu einer besseren strukturierten Beteiligung von Betroffenen kommen, und versuchen, dabei möglichst viele Institutionen und Betroffene einzubinden.
Frage: Bei der evangelischen Kirche hakt es ebenfalls bei der Beteiligung von Betroffenen. Anders als bei der katholischen Kirche gibt es hier auch noch keine Gemeinsame Erklärung. Wie geht es hier weiter?
Claus: Für eine solche Erklärung gibt es in vielen Punkten schon eine Einigkeit. Einen genauen Zeitplan für einen Abschluss gibt es aber noch nicht. Eine Schwierigkeit ist, dass eine Umsetzung wie bei den katholischen Bistümern auf regionaler Ebene erfolgen soll. Da wird im Hintergrund schon an Verbünden gearbeitet, die sicher nicht zu groß sein sollten. Nach einem ersten gescheiterten Versuch gibt es jetzt bei der EKD eine neue Struktur für eine Betroffenenbeteiligung, da muss man schauen, wie es anläuft. Positiv ist auf jeden Fall, dass es ein klares Mandat für die Betroffenen gibt: Sie müssen Beschlüssen zustimmen, bevor sie umgesetzt werden. Wir müssen abwarten, ob es trägt, dass die Struktur zwar völlig neu angelegt wurde, es aber kein neues Verfahren für die Gewinnung und Mandatierung der Betroffenen gab. Ich bin nicht sicher, ob sich die Kirchenleitung damit richtig auseinandergesetzt hat.
Frage: Es gibt viele weitere Institutionen, in denen Missbrauch publik wurde, etwa die Sportverbände. Wird es mit der geplanten gesetzlichen Grundlage für Ihre Amt einfacher, Vereinbarungen zur Aufarbeitung zu schließen?
Claus: Auf jeden Fall. Mit einer gesetzlichen Grundlage für mein Amt, aber auch für die Aufarbeitungskommission auf Bundesebene, wäre vieles einfacher. Ich denke da etwa an die Einführung verbindlicher Standards für die Aufarbeitung. Dass es die bislang noch nicht wirklich gibt, wurde auch bei den Studien, die die katholischen Bistümer bislang veröffentlicht haben, sichtbar. Jede Studie ist anders angelegt, man kann sie nicht wirklich nebeneinander stellen und vergleichen. Ein entsprechendes Gesetz, an dem derzeit das Bundesfamilienministerium federführend arbeitet, muss das Recht auf Aufarbeitung, zum Beispiel in Form von Akteneinsicht, für Betroffene beinhalten. Zugleich muss klar werden, dass sich der Staat zu seiner Verantwortung bekennt, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verhindert zu haben. Dazu muss auch die bundesweite Aufarbeitungskommission gestärkt werden, allein ein ehrenamtliches Gremium auf Bundesebene kann das nicht leisten – zumal ja auch Missbrauch in nicht-institutionellen Kontexten, insbesondere in der Familie, in den Blick genommen werden muss. Entsprechend sollte es diese Kommissionen dann auch auf Länderebene geben. Spätestens im Sommer 2023 sollte das Gesetz stehen, damit es noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt und angewandt werden kann.
Frage: Um an die gesellschaftliche Verantwortung für Prävention und Aufarbeitung von Missbrauch zu appellieren, wollen Sie Ende des Jahres eine Sensibilisierungskampagne starten. Sind die Mittel dafür in Zeiten der Finanzknappheit gesichert?
Claus: Nein, leider nicht. Wir wollen im Herbst starten. Leider sind bisher die Mittel für das nächste und übernächste Jahr von jeweils fünf Millionen Euro noch nicht sicher. Für mich ist das unsäglich, denn die Kampagne würde endlich möglich machen, in die Fläche zu gehen und große Teile der Gesellschaft zu erreichen. Uns bleibt jetzt noch der Weg über das parlamentarische Verfahren, und wir hoffen sehr, dass es gelingt, die benötigten Mittel doch noch zu erhalten.