Himmelklar – Der katholische Podcast

Vatikan-Außenminister: Vielleicht besucht Franziskus Deutschland noch

Veröffentlicht am 27.07.2022 um 00:30 Uhr – Lesedauer: 

Köln/Vatikanstadt ‐ Wieso bezieht der Vatikan keine eindeutige Position im Ukraine-Krieg? Im Interview spricht Erzbischof Paul Richard Gallagher, Außenbeauftragter des Papstes, über die Neutralität des Heiligen Stuhls, das Verhältnis zur Bundesregierung und seine Sorgen mit Blick auf die Kirche in Deutschland.

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Warum reist der Papst nicht nach Deutschland? Weshalb benennt der Vatikan nicht Russland als Aggressor im Ukraine-Krieg? Stimmt es, wenn der Papst vom "Dritten Weltkrieg auf Raten" spricht? Stört es den Heiligen Stuhl, dass Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz aus der Kirche ausgetreten ist? Belasten die Spannungen zwischen Vatikan und Deutscher Bischofskonferenz auch die Diplomatie? Fragen über Fragen, die Erzbischof Paul Richard Gallagher, der Außenminister des Papstes, beantwortet. Der Engländer ist seit 2014 "Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten" im Vatikan.

Frage: Sie sind seit 2014 im Amt. In dieser Zeit hat sich die Welt radikal verändert. Die Spannungen auf allen Erdteilen haben sich rasant vermehrt. Trump, Brexit, Corona, Ukraine. Ist die Welt heute eine andere als zu Ihrem Amtsanritt?

Gallagher: Die Welt ist in vielerlei Hinsicht die gleiche. Was sich verschlechtert hat – und ich hoffe, ich habe dazu nicht beigetragen – ist der Zustand, in dem sich viele Länder befinden. Es gibt mehr Konflikte, Spannungen, Polarisierung. Es gibt mehr Hass. Es gibt große Verzweiflung durch Nahrungsmangel und Probleme beim Zugang zu grundsätzlichen Lebensnotwendigkeiten.

Die Lage hat sich also verschlechtert und ist damit auch gefährlicher geworden. Nimmt man eine Weltkarte und markiert jeden Krisenherd mit einem roten Punkt, gibt es die Gefahr, dass sich diese Punkte verbinden. Was in der Ukraine passiert hat natürlich auch Auswirkungen auf den Nahen Osten. Was im Nahen Osten passiert hat Auswirkungen auf Nordafrika. Nordafrika auf die Subsahara-Region, und so weiter. Das ist die große Gefahr.

Frage: Papst Franziskus nennt das den "Dritten Weltkrieg auf Raten". Ist das nicht ein wenig zu dramatisch?

Gallagher: Das ist in der Tat dramatisch und hat auch schockiert, als er das zum ersten Mal gesagt hat. Er hat mit dieser Aussage versucht, die Menschen wachzurütteln, fast schon prophetisch. Schaut man sich die Entwicklung der letzten Jahre an, hat er recht behalten, denke ich. Es ist eine Warnung an die Welt, dass diese Gefahren existieren.

Der Krieg in der Ukraine war das Ende einer gewissen Nachkriegs-Unschuld in Europa. In gewissem Maße war der Krieg auf dem Balkan auch schon solch ein Weckruf. Leider haben wir in Europa nicht angemessen auf die Problemstellungen reagiert, die sich herauskristallisiert haben.

Im Moment besteht die Gefahr, dass wir nach einem Ende des Ukraine-Krieges hoffen, dass alles wieder wie vorher wird. Das wird nicht passieren. Ein ausgewachsener Krieg in Europa ist möglich, trotz aller Institutionen, trotz allen Fortschritts. Wir haben den Frieden zu lange als Gegebenheit hingenommen und nicht mehr dafür gearbeitet – persönlich, individuell, gemeinschaftlich und institutionell. Frieden muss geschaffen und gestärkt werden. Das haben wir versäumt.

Frage: Erinnert das nicht an die Lage vor dem Ersten Weltkrieg? Viele Krisenherde, steigende Spannung. Damals lief alles auf die größte Katastrophe der damaligen Menschheitsgeschichte hinaus.

Gallagher: Man sagt ja, dass damals die Welt in diesen Krieg hineingeschlittert ist. Dass man akzeptiert hat, dass ein großer Krieg unumgänglich sei. Das sollte eine Warnung für uns heute sein. Ich denke es gibt durchaus Parallelen. Was wir tun müssen, ist, dieses Schlittern zu vermeiden. Wir müssen aktiv werden, um Kriege zu vermeiden, sie vorherzusehen. Das ist das Gebot der Stunde.

Bild: ©Caritas-Spes/Ukraine

Vor einigen Wochen war Erzbischof Gallagher in der Ukraine. "Die Kosten dieses Krieges, die Kosten an Leben, an der Jugend sind einfach erschreckend. Deshalb müssen wir weiter am Frieden arbeiten und ihn auch als eine mögliche Realität betrachten", sagt er.

Frage: Sie haben selbst vor einigen Wochen die Ukraine besucht. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Gallagher: Ich habe sehr unterschiedliche Seiten dieses Krieges gesehen. Man muss die ukrainischen Menschen wirklich bewundern für ihre Widerstandskraft, ihren Einsatz. Gleichzeitig ist es was ganz anderes, dieses Leid mit eigenen Augen zu sehen, statt nur im Fernsehen. Ich habe auch angefangen zu realisieren, wie komplex die politische Lage im Land ist. Die Probleme für die politische Führung.

Und ganz simpel: Krieg ist eine Realität, die das Leben der ganz normalen Menschen betrifft. Sie und mich. Die Menschen stecken mitten drin in einer Lage, die sie sich nicht gewünscht oder ausgesucht haben. Die Kosten dieses Krieges, die Kosten an Leben, an der Jugend sind einfach erschreckend. Deshalb müssen wir weiter am Frieden arbeiten und ihn auch als eine mögliche Realität betrachten.

Frage: Interessant ist die Rolle des Vatikans in diesem Konflikt. Kritiker sagen, dass der Heilige Stuhl mit seiner Neutralität sich nicht auf die Seite der Opfer stellt. Der Papst hat bis heute nicht Russland als Aggressor benannt. Sie haben genau das getan bei Ihrem Ukraine-Besuch. Wie schwierig ist es für Sie, solch eine Aussage zu treffen? Ist das mit dem Papst abgestimmt? Ist das eine bewusste politische Strategie, dass diese Aussage aus der zweiten Reihe kommt und nicht vom Papst?

Gallagher: Meine Priorität – bei dieser Aussage wie auch im Allgemeinen – ist, Zuspruch und Mitgefühl zu zeigen. Sie zu unterstützen in ihrem Leid und bei ihrem Widerstand gegen die Aggression.

Wir versuchen, der Linie zu folgen, die der Heilige Stuhl mehr oder weniger seit Jahrhunderten vorgibt. Erinnern wir uns an den Brief von Benedikt XV. vor dem Ersten Weltkrieg, man möge sich nicht auf die eine Seite schlagen oder die andere.

Der Heilige Stuhl hat eine universelle Mission. Es geht nicht darum, dass wir nicht sehen, wer Angreifer und Opfer sind. Der Heilige Vater sieht, dass Konflikte kompliziert sind. Man kann nicht einfach von Gut und Böse sprechen, so einfach ist das nicht. Genau deshalb ist unser Ansatz eben, auf den Frieden hin zu arbeiten. Kontakte herstellen, sich möglicherweise als Vermittler anbieten, das ist unser Ansatz.

Einige fragen uns, ob wir als Heiliger Stuhl neutral sind. Nicht in unserer Reaktion auf das Leid in der Ukraine. Aber politisch sehen wir uns als neutral. So wie andere Länder in der Welt, die das teilweise sogar in ihrer Verfassung stehen haben. Was ich damit sagen will: Wir sind neutral, aber nicht ethisch gleichgültig. Wir sagen nicht, dass wir mit diesem furchtbaren Konflikt nichts zu tun haben wollen. Wir sagen: Wir sind hier. Was können wir tun?

Was der Heilige Stuhl nie tut, ist, Allianzen einzugehen. Wenn man sich mit jemandem alliiert, alliiert man sich auch gegen jemanden. Nochmal: Wir heißen nicht irgendetwas gut, das Russland tut. Gleichzeitig ist es aber notwendig für uns, ein gewisses Maß an Offenheit zu behalten, um zur Lösung des Konfliktes beizutragen.

„Wir sind neutral, aber nicht ethisch gleichgültig.“

—  Zitat: Erzbischof Paul Richard Gallagher zur Position des Heiligen Stuhls bei internationalen Konflikten

Frage: Das verstehe ich. Aber ist dieser Ansatz noch zeitgemäß? Wenn selbst Staaten wie die Schweiz, Norwegen oder Schweden ihre Neutralität ablegen? Wird der Vatikan durch diese Neutralität nicht auch instrumentalisiert? Das Moskauer Patriachat zum Beispiel spricht davon, dass der Nuntius einer der wenigen Diplomaten ist, der noch mit ihnen in Kontakt steht, und bewirbt das als Unterstützung des Vatikans. – Also: Verschärft der Vatikan nicht den Konflikt, durch diese eigene Zurückhaltung?

Gallagher: Ich denke, wir bieten Kiew die größte Unterstützung und die intensivsten Kontakte an. Ich denke, die Position des Heiligen Vaters, was seine Unzufriedenheit und Kritik am Moskauer Patriarchat angeht, ist auch ganz klar. Schauen Sie sich die Videokonferenz mit Kyrill I. an, an der neben Papst Franziskus auch Kardinal Koch teilnahm.

Ich verstehe, dass die Menschen immer wollen, dass man in einem Konflikt eine Seite wählt. Das hat uns in der Geschichte noch nie geholfen. Der Heilige Stuhl bietet Unterstützung an, besonders für die Ukraine. Auf der anderen Seite müssen wir im ökumenischen und politischen Dialog ein gewisses Maß an Offenheit gegenüber allen Seiten behalten.

Frage: Es gibt Gerüchte, dass Papst Franziskus Kiew besuchen will. Wie sehen da die Planungen aus?

Gallagher: Der Wille ist da, aber es gibt noch keine konkreten Planungen. Nun steht erst mal die Kanada-Reise an. Das ist eine große Herausforderung, auch für die Gesundheit des Heiligen Vaters. Wir müssen schauen, wie das läuft. So lange können wir uns da noch nicht festlegen oder eine Einladung annehmen. Wenn Kanada einigermaßen gut läuft, könnte es mit der Planung relativ schnell gehen.

Es ist auch nicht einfach, nach Kiew oder Lwiw zu kommen. Die Reise dauert zwei Tage. Man kommt mit dem Flugzeug nur ein Stück weit, dann muss es mit dem Auto oder Zug weiter gehen, das ist eine lange Reise. Und dann muss man ja auch wieder zurückkommen. Man kann diese Entscheidung also nicht übers Knie brechen.

Frage: Man munkelt etwas von August. Wäre das realistisch?

Gallagher: Ich denke, es ist möglich, aber ich bin mir da nicht sicher. Bevor wir aus Kanada zurückkommen, ist das sehr schwer zu sagen. Ich denke, der Papst möchte das so bald wie möglich angehen.

Frage: Wir haben vorhin über Krieg und Frieden gesprochen. Die katholische Kirche setzt sich für den Frieden als Konfliktlösung nun. Nun gibt es aber auch an dieser Haltung Kritik. Ein Betonen des Friedens wird als naiv bezeichnet. Es gäbe ja auch andere Lösungen für einen Konflikt. Was entgegnen Sie?

Gallagher: Ich denke, jede Alternative zum Frieden kostet ihren Preis. Den Preis des menschlichen Lebens, der Zerstörung und auch der psychologischen Folgen für ein Land, die Traumata von Männern und Frauen, die im Krieg gekämpft haben. Die Kirche muss hier darauf beharren, dass ihre Arbeit – die Arbeit aller Menschen guten Willens – auf den Frieden ausgerichtet sein muss.

Wir hier in Rom verstehen natürlich vollkommen, dass ukrainische Katholiken eine patriotische Pflicht haben, ihr Land und ihre Regierung zu unterstützen und zu verteidigen. Wir bieten Unterstützung dafür. Der Papst ist überzeugt davon. Es ist ja auch ein fundamentaler Teil unserer christlichen Ethik und Überzeugung, dass der Frieden das Ziel sein muss. Christus sagt ja: Selig sind, die Frieden stiften. Es gibt viele ethische Fragen, die man weitläufiger interpretieren kann, aber nicht diese.

Ich verstehe, dass es den Ukrainern gerade schwerfällt, über Frieden nachzudenken. Das Leid ist zu groß dafür. Im Endeffekt müssen wir Christen aber Friedensstifter sein. Das steht schon im Evangelium. Wenn wir nicht für den Frieden einträten, hätte das viel dramatischere Konsequenzen für die ganze Welt.

Bild: ©KNA/Paul Haring/CNS Photo (Archivbild)

Reist Papst Franziskus schon bald in die Ukraine? "Man kann diese Entscheidung nicht übers Knie brechen", sagt Erzbischof Gallagher.

Frage: Lassen Sie uns auf Deutschland blicken. Wir haben vergangenes Jahr nach langen Jahren eine neue Regierung bekommen. Von Angela Merkel hieß es immer, sie habe ein gutes, freundschaftliches Verhältnis mit Papst Franziskus gepflegt. Wie haben Sie das aus der Innensicht erlebt?

Gallagher: Der Papst und die frühere Kanzlerin hatten sicher ein sehr gutes Arbeitsverhältnis. Sie konnten immer sehr offen und deutlich miteinander reden. Als der Heilige Vater in Straßburg war und in seiner Rede von Europa als "alter Dame" gesprochen hat, hat das der Kanzlerin nicht wirklich gefallen. Das hat sie ihm auch sehr deutlich gesagt. Ich war damals noch nicht im Amt, aber das wurde mir so erzählt.

Ich bin sehr froh darüber, wie sich das Verhältnis zu Deutschland in den letzten Jahren entwickelt hat. Als ich 2014 angefangen habe, war der heutige Bundespräsident Steinmeier Außenminister, und wir hatten ein gutes Verhältnis zu ihm. Nach meinem Eindruck intensiviert sich der Dialog mit Deutschland. Ich war zum Beispiel der letzte offizielle Amtsbesuch bei Außenminister Heiko Maas. Zwei Stunden nach unserem Termin hat er seine Nachfolgerin empfangen.

Ein paar Monate zuvor hatten wir seinen Staatsekretär hier in Rom. Die Beziehungen sind also gut. Wir haben einen sehr unkomplizierten und flüssigen Austausch mit dem deutschen Botschafter am Heiligen Stuhl. Wir haben einen sehr erfahrenen Nuntius in Berlin. Auf politischer Ebene können wir also sehr gut zusammenarbeiten. Wir können zwar nicht immer jede Einladung der deutschen Regierung oder Kirche annehmen, aber wir tun unser Bestes und sind ganz zufrieden mit den Beziehungen.

Frage: Nun haben wir eine neue Regierung, das erste Mal seit 2005 nicht geleitet von einer christlichen Partei. Olaf Scholz als Bundeskanzler ist aktiv aus der Kirche ausgetreten. Macht das die Beziehungen da schwieriger?

Gallagher: Nein, das glaube ich nicht. Wir müssen aber die Beziehungen noch etwas mehr aufbauen. In den Monaten seitdem der neue Kanzler im Amt ist, ist viel los gewesen. Er hatte da verständlicherweise Wichtigeres zu tun. Genauso die Außenministerin. Ich hoffe, dass ich sie in nicht allzu ferner Zukunft treffen kann. Einer ihrer Mitarbeiter war vor ein paar Wochen hier.

Die Kirchenzugehörigkeit spielt da also keine Rolle. Jeder bringt seine persönliche Geschichte mit. Das macht es manchmal einfacher, manchmal komplizierter. Was für uns im Vatikan viel wichtiger ist, ist Professionalität. Wir sind zum Beispiel sehr froh, wenn uns von einer Regierung ein gelernter Diplomat geschickt wird. Die kennen die Spielregeln. Wir wissen, was wir erwarten können. Ich bin mir also sicher, dass sich das Verhältnis weiter gut entwickelt.

Frage: Noch mal konkret nachgehakt: Dass der Bundeskanzler aus der Kirche ausgetreten ist, ist für den Heiligen Stuhl kein Problem?

Gallagher: Absolut nicht. Wir haben eine lange Tradition darin, mit den unterschiedlichsten Systemen zusammenzuarbeiten. Von liberalen Demokratien bis zu autoritären Staaten oder Monarchien. Wir haben auch die unterschiedlichsten Persönlichkeiten erlebt. Wir wollen da keine Vorurteile haben. Von entscheidender Bedeutung ist einfach, wer und was von den Vertretern repräsentiert wird. In unserem Fall die Weltkirche, von der deutschen Regierung die Interessen der deutschen Nation.

Manchmal haben wir in der Tat bessere Beziehungen zu weniger religiösen Politikern, als zu sehr frommen und überzeugten Katholiken. Wir haben auch gute Beziehungen zu Agnostikern oder Atheisten. Es kommt einfach auf die Chemie an. Der menschliche Faktor ist sehr wichtig.

Bild: ©picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

"Wir müssen die Beziehungen noch etwas mehr aufbauen", sagt Erzbischof Gallagher zur neuen deutschen Bundesregierung. Dass ihr keine christliche Partei angehört, sei für den Heiligen Stuhl kein Problem.

Frage: Gibt es Konfliktlinien mit der deutschen Regierung? Wir haben zum Beispiel gerade einen Teil unseres Abtreibungsrechts geändert.

Gallagher: Diese Fragen liegen in der Regel eher bei den Kirchen in den einzelnen Ländern, sich mit der Gesetzgebung auseinanderzusetzen. In Deutschland ist das Regierungssystem sehr komplex.

Natürlich gibt es Konfliktpunkte. Die deutsche Regierung hat Punkte, die sie gegenüber dem Heiligen Stuhl anbringt, bei denen es um die Stellung der Kirche in Deutschland geht. Zum Beispiel die Frage des Missbrauchs war einer der ersten Punkte, worüber wir mit dem vorigen Botschafter hier gesprochen haben. Eine in Deutschland sehr hitzig geführte Debatte. Da haben wir großes Verständnis geäußert, da die Aufarbeitung ja auch eine Priorität des Heiligen Stuhls ist.

Frage: Seit knapp zehn Jahren fragt sich Deutschland, warum uns der Papst nicht besucht. Offensichtlich hat er andere Prioritäten. Krisenländer, Nationen, die nicht im Fokus stehen. Aber gab es schon mal solche Überlegungen?

Gallagher: Vertreter der großen europäischen Nationen bringen eines oft zur Sprache: Auch wir gehören zur Peripherie, wenn es um die Stellung der Kirche, die Glaubenspraxis geht. Der Heilige Vater hat den Wunsch, kleinere Nationen in den Vordergrund zu stellen, Volksgruppen, die am Rande stehen. Fragile Staaten. Im Moment reist er nach Kanada, das ist ja ein großes Land, aber es geht um eine spezielle Volksgruppe, es geht um die Indigenen. Es kommt also nicht nur auf das Land an, sondern auch auf den Kontext. Natürlich gibt es auch die politische Ebene, aber im Vordergrund stehen immer die Menschen. Kanada ist eine Reise der Buße, das hat er im Angelusgebet gesagt. Buße für den Umgang der Kirche mit Indigenen in katholischen Schulen.

Frage: Das gleiche Argument könnte man aber auch bei Missbrauchsopfern in Deutschland oder Frankreich anbringen.

Gallagher: Natürlich. Vielleicht bringt das die Zeit ja auch noch mit sich. Vielleicht entscheidet sich der Papst noch dazu. Natürlich ist die Zeit, die er noch hat, begrenzt. Das ist aber sein Ansatz, die Peripherie zu besuchen, wie er sie definiert. Und ich denke, das hat einen signifikanten Eindruck hinterlassen in den letzten Jahren. Am Ende kann man nicht jede Einladung annehmen und Jeden zufriedenstellen.

Frage: Nun gibt es die Beziehungen zu den Regierungen eines Landes und auch zur nationalen Kirche. Es ist kein Geheimnis, dass die Stimmung zwischen dem Vatikan und der Deutschen Bischofskonferenz angespannt ist. Hat das auch Einfluss auf die diplomatische Ebene und Ihre Arbeit?

Gallagher: Papst Franziskus sagt, dass im Endeffekt alles gegenseitigen Einfluss aufeinander hat. Man kann sowas nicht getrennt voneinander betrachten. Die Konflikte haben einen Einfluss. Wir sind gerade sehr besorgt bei der Richtung, die die Kirche in Deutschland im Moment einzuschlagen scheint. Natürlich hat das auch einen Einfluss auf unsere Arbeit. Das hat einen Einfluss darauf, wie der deutsche Staat den Heiligen Stuhl und die katholische Kirche sieht – und umgekehrt, wie wir Deutschland und auch die deutsche Kirche sehen.

Frage: Spielt es eine Rolle, dass Deutschland zu den finanzstärksten Teilkirchen gehört?

Gallagher: Nein, das glaube ich nicht. Das ist eine Frage, die sich die deutsche Kirche vielleicht selber stellen muss. Ob dieses System, dass sich mit der Zeit entwickelt hat und beachtliche Ressourcen mit sich bringt, ob dieses System der Kirche wirklich so dienlich gewesen ist.

Für unsere Arbeit spielt das aber keine Rolle, zumindest nicht, was unsere diplomatische Arbeit hier angeht.

Von Renardo Schlegelmilch