Hoffmann: Stetter-Karp-Argumente wurden bewusst falsch interpretiert
Familienpolitik ist immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten – auch ganz aktuell, denn die Ampelkoalition hat sich einige ambitionierte familien- und gesellschaftspolitische Projekte vorgenommen. Im Interview mit katholisch.de äußert sich der Präsident des Familienbundes der Katholiken, Ulrich Hoffmann, unter anderem zu viel diskutierten Gesetzesvorhaben wie der Verantwortungsgemeinschaft und dem Selbstbestimmungsgesetz. Außerdem bezieht er Stellung in der weiter schwelenden Diskussion um das abgeschaffte Werbeverbot für Abtreibungen und die jüngsten Aussagen dazu von ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp. Und auch der eigentlich Anlass für das Gespräch nimmt breiten Raum ein: die aktuelle Inflation und ihre Folgen für Familien.
Frage: Herr Hoffmann, die Lebenshaltungskosten in Deutschland sind in den vergangenen Monaten erheblich gestiegen – und ein Ende der Preissteigerungen ist derzeit noch nicht in Sicht. Wie sehr trifft die Inflation die Familien in Deutschland?
Hoffmann: Die Familien sind von der aktuellen Entwicklung stark betroffen – vor allem kinderreiche Familien und Alleinerziehende. Sie verfügen häufig kaum über finanzielle Rücklagen und müssen von dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht, nun einen immer größeren Anteil für die Dinge der täglichen Lebenshaltung ausgeben. Die momentane Inflation, von der ja in der Tat noch nicht absehbar ist, wie sie sich weiterentwickelt, bringt auch Familien, die sich vielleicht noch zur unteren Mittelschicht zählen, stark unter Druck.
Frage: Laut einer jüngst veröffentlichten Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung belastet die hohe Inflationsrate Familien deshalb so stark, weil bei ihnen die stark verteuerten Güter Energie und Nahrung einen besonders großen Teil der Haushaltsausgaben ausmachen. Mit welchen Maßnahmen sollte den Familien Ihrer Ansicht nach jetzt geholfen werden?
Hoffmann: Mit gezielten sozialpolitischen Maßnahmen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus etwa hat zuletzt vorgeschlagen, das Kindergeld zu erhöhen. Das hielten wir für eine gute Maßnahme, um Familien in der aktuellen Situation gezielt zu unterstützen. Zusätzlich könnten wir uns steuerliche Entlastungen für Familien vorstellen – gerade bei den Dingen des täglichen Bedarfs und bei Artikeln, die für Familien besonders wichtig sind. Vielleicht wäre bei den entsprechenden Produkten temporär sogar eine vollständige Steuerbefreiung denkbar. Wichtig ist auch, dass die steuerlichen Freibeträge für Erwachsene und Kinder entsprechend der Inflationsentwicklung angepasst werden, damit das Existenzminimum von Familien steuerfrei bleibt. Wovon wir dagegen nicht so viel halten, sind Einzelmaßnahmen außerhalb der etablierten sozialstaatlichen Strukturen.
Frage: Gerade Einzelmaßnahmen wie Einmalzahlungen oder spezielle Entlastungspakete waren zuletzt aber ein wichtiger Baustein der Politik der Bundesregierung im Kampf gegen die Inflation. War das also der falsche Weg?
Hoffmann: Aus unserer Sicht: ja. Denn solche Maßnahmen kosten zwar viel Geld – lösen aber immer nur kurzfristige Entlastungseffekte aus. Nehmen Sie etwa das Neun-Euro-Ticket: Das entlastet Menschen, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, zwar spürbar – vorerst aber nur für drei Monate. Das reicht nicht. Gerade Familien müssen dauerhaft entlastet werden, auch damit sie Planungssicherheit haben. Die schon angesprochene Idee der Kindergelderhöhung wäre unserer Ansicht nach deshalb hilfreicher.
„Allen gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz sind die Ehe und die Lebensgemeinschaft immer noch die häufigste Familienform in Deutschland.“
Frage: Sozialpolitische Maßnahmen zu beschließen und umzusetzen braucht meist ein paar Monate Zeit; realistisch wäre eine Kindergelderhöhung wahrscheinlich erst zum kommenden Jahr. Die Belastungen durch die gestiegenen Preise spüren die Menschen aber schon jetzt deutlich im Portemonnaie ...
Hoffmann: Wir haben im Zuge der Corona-Pandemie mehrfach erlebt, dass die Politik bei Bedarf auch sehr schnell handeln kann. Aber selbst wenn eine Kindergelderhöhung tatsächlich einen gewissen Vorlauf bräuchte: Spürbare Entlastungen etwa durch Steuersenkungen auf Lebensmittel wären – den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt – auch kurzfristig umsetzbar.
Frage: Blicken wir über die aktuelle Krise hinaus. Die Ampelkoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag einige interessante familienpolitische Ziele gesetzt. Freuen Sie sich, dass die Familienpolitik in der Koalition so viel Aufmerksamkeit erfährt oder überwiegt bei Ihnen die Sorge, weil viele Ziele der drei Parteien in diesem Feld dem katholischen Bild von Ehe und Familie widersprechen?
Hoffmann: Grundsätzlich überwiegt die Freude, denn wir haben bislang den Eindruck, dass die Familienpolitik in der Ampelkoalition tatsächlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie auch verdient. Allerdings ist der Blick der Ampel bei manchen Gesetzesinitiativen auch sehr stark auf das Individuum gerichtet und nicht auf die Familie als Ganze – und das sehen wir durchaus kritisch. Wir erleben in der Gesellschaft ohnehin schon einen starken Trend hin zu einer immer stärkeren Individualisierung. Wenn sich diese Entwicklung weiter fortsetzt, kann das den notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt auf Dauer durchaus gefährden. Was die Arbeit unseres Verbandes angeht, kann ich aber nur Gutes berichten: Unser Austausch mit dem grün geführten Bundesfamilienministerium ist gut und vertrauensvoll – und keinesfalls schlechter als unter der schwarz-roten Vorgängerregierung.
Frage: Der Koalitionsvertrag fasst den Familienbegriff insgesamt sehr weit. Er sieht Familie "überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen". Können Sie als katholischer Verband mit dieser Definition leben?
Hoffmann: Grundsätzlich ja, denn diese Definition bildet die gelebte Vielfalt der Familien in Deutschland sicher gut ab. Gleichwohl sollte beim Wort "Familie" nicht der Eindruck einer völligen begrifflichen Konturlosigkeit entstehen. Für uns ist daher Familie da, wo Menschen generationenübergreifend eine auf Dauer angelegte Verantwortungsbeziehung eingehen und füreinander sorgen. Allen gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz sind Ehen und die Lebensgemeinschaften mit Kindern immer noch die häufigste Familienform in Deutschland. Eine gegenwartsorientierte Familienpolitik sollte für diese Lebensrealität offen sein und diese Familien im Blick behalten. Für die Gesellschaft ist es ein großer Gewinn, wenn Menschen dauerhaft und verbindlich Verantwortung füreinander übernehmen.
Frage: Verantwortung kann man aber auch außerhalb der klassischen Familie füreinander übernehmen. Die Ampel will das würdigen und eine sogenannte "Verantwortungsgemeinschaft" einführen, die es zwei oder mehr Personen ermöglichen soll, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen. Wie stehen Sie zu dieser Idee?
Hoffmann: Bislang ist die Verantwortungsgemeinschaft ja noch eine sehr grobe Idee; laut Bundesjustizminister Marco Buschmann soll das entsprechende Gesetz frühestens Ende kommenden Jahres kommen. Manche befürchten ja schon, dass mit der Verantwortungsgemeinschaft eine "Ehe light" eingeführt werden soll, ähnlich dem 1999 in Frankreich eingeführten "Pacte civil de solidarité". Das allerdings würden auch wir kritisch sehen, denn diese sogenannten PACS-Verbindungen können sehr leicht wieder aufgelöst werden und reduzieren damit die Verbindlichkeit des Zusammenlebens – und das können wir als Gesellschaft nach unserer Überzeugung gerade nicht gebrauchen. Ekin Deligöz, die seit Dezember Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium ist und die ich gut kenne, hat die Idee der Verantwortungsgemeinschaft wiederum so beschrieben, dass es dabei zum Beispiel um Wohngemeinschaften von Senioren geht, die dadurch rechtlich besser abgesichert füreinander sorgen können sollen. Sollte das tatsächlich das Ziel sein, würden wir das natürlich sehr unterstützen. Aber wie gesagt: Noch ist ziemlich unklar, wohin die Reise bei der Verantwortungsgemeinschaft tatsächlich geht; da müssen wir noch abwarten.
Frage: Ende Juni hat die Koalition erste Eckpunkte für ein geplantes Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt. Demnach soll es künftig unter anderem möglich sein, den Geschlechtseintrag und den Vornamen – theoretisch einmal im Jahr – durch eine Erklärung vor dem Standesamt zu ändern. In der Bevölkerung ist dieser Vorschlag laut einer aktuellen Umfrage hoch umstritten. Von katholischer Seite hat man zu diesem Vorschlag bislang wenig gehört. Wie steht der Familienbund dazu?
Hoffmann: Ganz grundsätzlich stehen wir dafür ein, dass kein Mensch aufgrund seiner geschlechtlichen Identität oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Auch diese Menschen sind geliebte Kinder Gottes – wie alle anderen Menschen auch. Gleichwohl möchte ich davor warnen, die Möglichkeit zur Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens oder gar geschlechtsverändernde Operationen zu früh zu ermöglichen. Gerade bei Jugendlichen sollte man bei diesem Thema immer auch entwicklungspsychologische Aspekte und das jeweilige soziale Umfeld beachten. Wir wissen zum Beispiel, dass deutlich mehr Mädchen und junge Frauen mit ihrer geschlechtlichen Identität hadern als Jungen und junge Männer. Hat das eventuell mit gesellschaftlichen Leitbildern beziehungsweise mit männlich dominierten Gesellschaftsstrukturen zu tun? Aber nochmal: Es ist eine Tatsache, dass es Menschen gibt, deren geschlechtliche Identität nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Und dass diese Menschen durch ein neues Gesetz neue Rechte bekommen sollen, ist gut und anzuerkennen.
„Aus unserer Sicht waren die Informationsmöglichkeiten über Schwangerschaftsabbrüche auch mit Paragraf 219a ausreichend vorhanden.“
Frage: Große Aufregung im katholischen Raum hat zuletzt die Entscheidung der Ampel zur Streichung des Strafrechtsparagrafen 219a ausgelöst, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelte. Ihr Verband hatte sich gegen die Streichung des Paragrafen ausgesprochen. Welche Gefahr sehen Sie durch die jetzt erfolgte Streichung?
Hoffmann: Wir sehen die Gefahr, dass Abtreibungen dadurch in den Augen der Bevölkerung mehr und mehr zu einem normalen medizinischen Eingriff werden – aber das sind sie nicht! Aus unserer Sicht waren die Informationsmöglichkeiten über Schwangerschaftsabbrüche auch mit Paragraf 219a ausreichend vorhanden; jeder, der sich im Internet über Ärzte, die einen Abbruch durchführen, und die verschiedenen Möglichkeiten eines Abbruchs informieren wollte, konnte die entsprechenden Informationen leicht finden. Insofern war die Streichung des Paragrafen schlicht überflüssig. Hinzu kommt, dass der in den 1990er Jahren doch eigentlich gut befriedete Konflikt um die Abtreibungsfrage nun insgesamt neu aufzubrechen droht. Wie fatal das enden könnte, kann man derzeit in den USA beobachten.
Frage: In der Debatte um die Streichung des Paragrafen hat sich auch ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp mit einem Gastbeitrag in der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" zu Wort gemeldet. Dabei sorgte vor allem ihre Aussage, dass sichergestellt werden müsse, "dass der medizinische Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs flächendeckend ermöglicht wird", innerkirchlich für hitzige Debatten. Sie sind selbst ZdK-Mitglied: Fanden Sie den Beitrag von Frau Stetter-Karp klug?
Hoffmann: Ob der Beitrag angesichts der aktuellen "Gefechtslage" in der Kirche klug war, weiß ich nicht. Das von Ihnen genannte Zitat ist vielleicht etwas unglücklich formuliert. Ihre inhaltlichen Argumente konnte ich aber gut nachvollziehen. Liest man den gesamten Text, so ist deutlich erkennbar, dass Frau Stetter-Karp den gefundenen Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch bewahren möchte: im Sinne des gesellschaftlichen Friedens und zum Schutz des ungeborenen Lebens. Zu diesem Kompromiss gehört auch die grundsätzliche Möglichkeit, dass Frauen nach erfolgter Beratung den Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen können. Um mehr ging es Frau Stetter-Karp meiner Meinung nach nicht.
Frage: Von der Deutschen Bischofskonferenz hat sich Frau Stetter-Karp für ihren Text allerdings einen Rüffel eingefangen, und "Maria 1.0" hat sogar ihren Rücktritt gefordert ...
Hoffmann: Die Debatte über den Text hat mich stellenweise erschreckt, denn viele Kritiker haben die Argumente von Frau Stetter-Karp nach meinem Eindruck nur sehr einseitig wahrgenommen oder sogar bewusst falsch interpretiert. Grundsätzlich hat die Diskussion wie unter einem Brennglas genau die Polarisierung und Radikalisierung gezeigt, die wir bei diesem sensiblen Thema nicht gebrauchen können.
Zur Person
Ulrich Hoffmann ist seit Oktober 2018 Präsident des Familienbundes der Katholiken. Zuvor arbeitete der Theologe unter anderem in der Ehe- und Familienseelsorge im Bistum Augsburg sowie als Ehe-, Familien- und Lebensberater. Von 2013 bis 2018 war er Vorsitzender des Bundesvorstands der Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung in Deutschland. Der Familienbund der Katholiken wurde 1953 gegründet und setzt sich nach eigenen Angaben für Familienfreundlichkeit und Familiengerechtigkeit sowie für die zentrale Bedeutung von Ehe und Familie in der Gesellschaft ein.