Wo man Kirche nicht erwartet: Zu Besuch beim Durchkreuzer
Zwischen dem Bierwagen und den vielen Imbissständen findet sich beim Festival "Reload" in der Kleinstadt Sulingen ein ganz anderes Angebot: der Durchkreuzer. Das Seelsorge-Mobil des Bistums Osnabrück sticht während der heißen Tage im August, an denen das Metal-Festival stattfindet, aus den kleinen Holzbuden besonders hervor. Der weiße Kleinbus ist ein Einzelstück und besteht im hinteren Teil aus vielen Fenstern, die den Blick in den hohen Innenraum freigeben. Keines der Fenster ist in Bezug auf Größe und Zuschnitt gleich – einige sind zudem mit orangenem Stoff abgedeckt. Der Durchkreuzer präsentiert sich dennoch als offener und transparenter Raum und will damit das gängige Bild von Kirche "durchkreuzen".
Im nur wenige Quadratmeter großen Inneren des Kleinbusses ist Nathalie Jelen in ein Gespräch vertieft. Die Pastoralreferentin wirkt mit ihrer karierten Bluse sehr adrett – und zwischen den Festivalbesuchern ein wenig wie eine Exotin. Die meisten der mehr als 12.000 Menschen beim "Reload" sind schwarz gekleidet und tragen T-Shirts ihrer Lieblingsgruppen mit Namen wie "Lamb of God", "Gloryhammer" oder "Arch Enemy", allesamt Metal-Band, die bei dem Festival in der niedersächsischen Provinz auftreten. Jelens Gesprächspartnerin im Durchkreuzer ist eine junge Frau, die gerade ihr Handy im Seelsorge-Mobil auflädt. "Viele kommen zu uns, weil sie ihre Akkus an einer unserer Steckdosen aufladen wollen", so die Theologin, die im Bistum Osnabrück für den Kleinbus verantwortlich ist. "Doch wir wollen hier eigentlich nicht den Smartphones etwas Gutes tun, sondern den Menschen", sagt Jelen. Wer zum Durchkreuzer komme, sei an einem Ort, an dem ihm Zeit zum Ausruhen, ein Kaffee oder – wenn gewünscht – ein Gespräch geschenkt werde.
Die Idee des Mobils ist einfach: Weil immer weniger junge Menschen in die Kirche kommen, macht sich die Kirche auf den Weg zu ihnen. Entstanden ist das Projekt aus Rückmeldungen von 1.000 Jugendlichen der norddeutschen Diözese. Sie wurden befragt, wie ein Raum aussehen sollte, in dem sie sich gerne aufhalten würden. Eigentlich auf eine Kapelle in einem Jugendhaus bezogen, ist daraus der Durchkreuzer geworden. Und in der Tat: die ästhetisch ansprechende Gestaltung, der durch die vielen Fenster sehr offene wirkende Raum und die Holzmöbel im Innern wirken einladend. Das bestätigt auch Jelen: "Viele Menschen hier beim Festival bleiben vor unserem Kleinbus stehen und fragen uns, was das überhaupt ist." Das sei die häufigste Frage, die der Theologin und ihrem Team zum Durchkreuzer gestellt werde.
Die meisten Reaktionen seien positiv, so Jelen – nach dem Motto: "Toll, dass es so etwas gibt." Einige Besucher würden kurz stutzen, wenn sie erfahren, dass die katholische Kirche hinter dem Seelsorge-Bus steckt. "Dann kommt manchmal die Frage, wo der Haken ist." Ob die Kirche neue Mitglieder gewinnen wolle, etwas gekauft werden müsse, was es koste? "Viele sind irritiert, wenn ich ihnen sage, dass es keinen Haken gibt", berichtet die Pastoralreferentin. "Wir – die Kirche – sind in den Augen vieler die Bösen, wegen der schrecklichen Missbrauchsfälle und der vielen Skandale." Dass die Kirche kein Geld wolle und sich ansprechend präsentiere, konterkariere die Vorstellungen vieler Menschen. Auf den christlichen Glauben deutet im Durchkreuzer äußerlich nur ein kleiner Verweis auf das Bonifatiuswerk, das den Kleinbus mit 50.000 Euro förderte, und das Bistum Osnabrück hin – sowie die helle Innenlampe an der gläsernen Decke des Busses: ein stilisiertes Kreuz, das wie der gesamte Raum 2019 von Architekturstudenten aus Düsseldorf entworfen wurde.
Bei den Gesprächen, die Jelen meist auf einer der Bänke im Innenraum mit den Besuchern führt, geht es jedoch oft nicht um Glaubensthemen. "Die meisten Leute erzählen von ihren Erfahrungen beim Festival, ihrem Freundeskreis oder Problemen mit dem Zelt, in dem viele hier auf dem Festival-Gelände übernachten", sagt Jelen. "Es sind Dinge, die ihnen auf dem Herzen liegen und über die sie bei einem Kaffee sprechen möchten." Einige Menschen kommen an jedem der drei Tage des Festivals wieder oder bleiben für mehrere Stunden, andere schauen nur einmal kurz vorbei, um die Steckdosen zu nutzen – doch der Großteil der Menschen geht einfach vorbei. "Es sind keine Massen, die zu uns kommen", gibt die Theologin ohne Umschweife zu. Vielleicht nur einige hundert Menschen. Doch eine große Zahl an Besuchern sei auch gar nicht das Ziel. "Wir wollen die Menschen mit unserer Präsenz überraschen und ein anderes Bild von Kirche zeigen."
Nachdem der Durchkreuzer wegen Corona erst Ende 2021 fertiggestellt wurde, ist Jelen seit Mai mit dem Bus im eher ländlich geprägten Bistum Osnabrück unterwegs: Sie war mit ihm schon bei mehreren regionalen Festivals mit einer großen musikalischen Bandbreite von Reggae bis Rock. Auch der Besuch von Straßenfesten oder Schulen steht auf dem Programm. Unterstützt wird die Seelsorgerin dabei von Kollegen aus der Pastoral an den Einsatzorten. Während sie bislang vor allem mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu tun hatte, zeigt sich beim Metal-Festival die ganze Vielfalt der Gesellschaft. Menschen aller Altersgruppen und Weltanschauungen sind nach Sulingen gekommen. Die meisten Reaktionen auf den Durchkreuzer, auch bei Personen, die mit dem Glauben nichts anfangen könnten, seien sehr positiv. "Aber ich hatte hier auch schon einen Besucher, der sich als 'Antichrist' bezeichnet hat", sagt Jelen lachend. Er kam jeden Tag vorbei, um mit der Theologin zu diskutieren – auch über das Thema Religion. "Zum Abschied hat er mir sogar ein Mittagessen geschenkt", erinnert sie sich.
Den meisten Zulauf beim Festival hat der Durchkreuzer am Nachmittag und am Abend, wenn die Menschen in den langen Schlangen vor den Essensständen stehen und währenddessen auf den Bus aufmerksam werden. Oder wenn sie zwischen den Auftritten der verschiedenen Bands etwas Zeit haben. "Mich hat dabei vollkommen überrascht, dass es gar nicht nötig ist, ein Angebot zu machen, um die Menschen zu uns zu holen, wie etwa bei der Arbeit mit Kindern ein Schwungtuch oder ähnliches", sagt Jelen. Das schlichte Da-Sein sei ausreichend – auch, wenn das Angebot der Steckdosen für viele Besucher eine große Bedeutung habe, sagt sie augenzwinkernd. Die junge Besucherin im Durchkreuzer, mit der sich die Theologin zuvor unterhalten hat, wartet dort auf ihren Freund. Als der und andere Metal-Fans dazukommen, findet sich eine aufgeschlossene Runde zusammen und Gespräche entwickeln sich. Jelen und ihre Kollegin, die sie heute unterstützt, sitzen mittendrin.
Die Gespräche drehen sich um das Festival, persönliche Interessen und auch die Kirche. Doch Jelen geht es nicht um Mission, sie möchte einfach für die Leute da sein: "Den Menschen zuzuhören ist der Dienst, den wir als Kirche hier leisten können. Das ist Seelsorge." Dabei gibt es beim "Reload" auch klassische Festival-Seelsorger, die – erkennbar an ihren blauen Westen – über das Gelände und den angeschlossenen Camping-Platz gehen. Ihre Kollegen seien mehr mit akuten Problemen beschäftigt, die während des Festivals aufkommen, so Jelen. Im Durchkreuzer reiche die Bandbreite der Themen von Small-Talk bis hin zu den großen Lebensfragen um Liebe, Trennung und Tod. "Aktuell haben viele junge Menschen große Zukunftsängste", sagt sie mit Blick auf den Krieg in der Ukraine oder die Klimakrise.
Immer wieder bleiben Menschen vor dem Seelsorge-Mobil stehen. Einer von denen, die sich neugierig hineintrauen, ist Kevin. Der 31-Jährige fühlt sich vom ungewöhnlichen Design angesprochen: "Optisch ist das top." Er hatte von Freunden vom Durchkreuzer gehört und wollte sich ein eigenes Bild machen. Kevin ist sich jedoch nicht sicher, ob das Angebot der katholischen Kirche bei dem Festival am richtigen Platz ist. "Einige Menschen tragen hier T-Shirts, die Jesus und Gott beleidigen", sagt er. Auch Jelen, die eigentlich kein Fan von Metal-Musik ist, kennt inzwischen einige der in der Szene üblichen religionskritischen T-Shirts. Doch in ihren Augen sind die Botschaften eher eine Möglichkeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen. "Letztlich drücken diese Sätze bei vielen Menschen nicht ihre feste Überzeugung aus, sondern sind eine Provokation", sagt sie.
Berührt habe sie besonders die Begegnung mit einer jungen Katholikin. "Die Frau ist kurz davor, aus der Kirche auszutreten." Doch als sie erfahren habe, dass der Durchkreuzer ein kirchliches Angebot ist, sei sie positiv überrascht gewesen: "So etwas wünsche ich mir von der Kirche", habe sie gesagt. Auch in den Augen von Jelen ist niederschwellige Präsenz beim Festival eher angebracht als offensive Werbung für den Glauben. Rosenkränze würde sie an die Metal-Fans nicht verteilen. "Fast alle Menschen haben einen 'Lebens-Glauben', ein Vertrauen in das Leben." Die Kirche müsse daher bei den Lebensthemen der Menschen andocken. "Dabei hilft das offene Ohr, das wir hier haben." Die Beschäftigung mit dem "Gottes-Glauben" erfolge besser erst im nächsten Schritt.
Immer wieder kommen Gruppen von Festival-Besuchern am Durchkreuzer vorbei und Menschen treten ein, um ihr Handy aufzuladen. Aus den Schlangen vor den Imbissständen grüßen hin und wieder Musik-Fans, die dem Kleinbus in den vorherigen Tagen einen Besuch abgestattet haben. Eine in schwarz gekleidete junge Frau ruft: "Bis zum nächsten Jahr." Das zaubert Nathalie Jelen ein Lächeln ins Gesicht. Sie grüßt zurück und verspricht, nächstes Jahr wieder mit dem Durchkreuzer da zu sein – und setzt sich in das Seelsorge-Mobil für das nächste Gespräch.