Ordensfrau Franziska Dieterle über die Sexualmoral der Kirche

Franziskanerin: "Irgendwie macht das Ordenskleid auch asexuell"

Veröffentlicht am 08.09.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Die Orden waren immer die Reißnägel auf dem Stuhl der verfassten Kirche", sagt Schwester Franziska Dieterle. Auch beim Umgang mit Sexualität und Pflichtzölibat sieht sie Veränderungsbedarf. Für die Franziskanerin ist das einer der Gründe, sich beim Synodalen Weg zu engagieren.

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Schwester Franziska Dieterle (46) gehört der Kongregation der St. Franziskusschwestern Vierzehnheiligen an und nimmt als Delegierte am Synodalen Weg teil. Bei der ersten Versammlung fand sie deutliche Worte in Bezug auf das Thema Sexualität. Im Gespräch mit Marcus Leitschuh geht sie darauf ein und spricht über das Thema Sexualmoral und Missbrauch

Frage: Schwester Franziska, Sie haben  mit der Aussage: "Als Ordensfrau lebe ich meine Sexualität auch ohne Sex zu haben. Man kann auch fruchtbar leben ohne Sex", bei der ersten Versammlung des Synodalen Weges von sich reden gemacht. Warum war sie notwendig?

Dieterle: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, weil mich das so aufgeregt hat. In einem Papier der Synodalen Vorforen war ständig die Rede von Fruchtbarkeit im Zusammenhang mit Geschlechtsverkehr. Da habe ich mir gedacht: Einerseits wird betont, dass das etwas so Besonderes ist und deshalb nur in der Ehe passieren soll, und dann wird es reduziert aufs Nachkommen-Zeugen. So könnte ich auch über Hamster reden, die machen das auch. Ich mag als Synonym für Fruchtbarkeit den Begriff "Leben ermöglichen und weitergeben". Da fühle ich mich nah am Evangelium, an dem, was Jesus lebt. Im wahrsten Sinn Lebensräume zu ermöglichen und die Menschen in ihre Verantwortung zu entlassen. Es geht um mehr … Ja. Da gehört für mich der Begriff Keuschheit aus den "evangelischen Räten" hin. Das ist für mich nicht zuerst eine biologische Enthaltsamkeit, sondern Klarheit, Unverzwecktheit, Aufrichtigkeit. Wenn ich eine keusche Beziehung habe, sagt das noch nichts darüber aus, ob ich mit dieser Person Sex habe, sondern vielmehr darüber, in welcher Haltung ich die Beziehung gestalte. Sexualität ist mehr als Sex. Weil es sonst im Umkehrschluss heißen würde, dass ich als Ordensfrau in einer ehelosen Lebensform keine Sexualität hätte, weil ich keinen Sex habe. Ohne es überspiritualisieren zu wollen: Wir Menschen sind dazu geschaffen, Leben weiter zu schenken, Leben zu ermöglichen. Und das kann ich auf vielfältige Art. Dieses Verständnis von Fruchtbarkeit gehört für mich ganz klar zur Sexualität.

Frage: Mit den Menschen macht die Kirche gerade die Erfahrung, dass viele austreten. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach dabei die Sexualmoral der Kirche?

Dieterle: Ich glaube, das hat ganz allgemein etwas mit Glaubwürdigkeit und Relevanz der Kirche zu tun. Wenn ich junge Leute fragen würde: "Was sagt die Kirche zur Sexualität?", da würde ich keine Antwort bekommen. Außer vielleicht, es ist alles verboten, aber es hält sich niemand dran. Kirche macht meiner Meinung nach in der Vermittlung etwas kolossal falsch. Ein Beispiel: Als ich ca. fünfzehn war, fand in meiner Pfarrei eine Gemeindemission statt, geleitet von Ordensleuten. Wir haben uns in der Vorbereitung das Thema Sexualität gewünscht. "Kein Sex vor der Ehe", das war irgendwie das, was ich persönlich wusste von der katholischen Sexualmoral. Der Pater hat dann mit uns über Stufen einer Beziehung gesprochen. Ich erinnere mich noch, er hat wörtlich gesagt, dass es nicht um "vor oder in der Ehe" gehe, sondern um den Grad der Vertrautheit und darum, sich zu bemühen, dass Sexualität ein Beziehungsausdruck ist, eine Beziehungsentwicklung und nicht eine schnelle körperliche Erfahrung. Mir ging damals ein Kronleuchter auf: Es geht um mehr als Sex. So ist das eine hilfreiche Botschaft, und nicht: Kein Sex vor der Ehe. Punkt.

„Aber irgendwie macht das Ordenskleid auch asexuell. Und so werde ich oft auch wahrgenommen. Der häufigste Kommentar, den ich höre, wenn mich Leute, die mich nur im Ordensgewand kannten, das erste Mal in Zivil sehen, ist: "Ach, Sie sind ja eine Frau!"“

—  Zitat: Schwester Franziska Dieterle. In: "Wir können auch anders! Der Beitrag der Orden zum Synodalen Weg und für die Zukunft der Kirche"

Frage: Konnten Sie im Orden über Sexualität reden, haben Sie dort einen Resonanzraum gefunden?

Dieterle: Also in der Gemeinschaft als solche ist das jetzt nicht gerade das Tischgesprächsthema. Ich habe mir aber immer einzelne Gesprächspartnerinnen in der Gemeinschaft gesucht und finde das auch normal. Vor meinem Ordenseintritt habe ich ja auch nicht in jeder Bierrunde über Sexualität geredet. Mir ist es sehr wichtig, im Noviziatsunterricht über das Thema zu sprechen. Wenn man eine zölibatäre Lebensform wählt, muss man sich mit diesem Thema beschäftigen, weil es einem sonst irgendwann auf die Füße fällt. Wer zölibatär lebt, braucht einen guten und lebensförderlichen Umgang mit der eigenen Sexualität. Und damit meine ich jetzt nicht Selbstbefriedigung – so wird das oft gedeutet, wenn ich davon rede –, sondern grundsätzlich Zugang zu sich, zur eigenen Körperlichkeit, zu den eigenen Bedürfnissen und einem liebevollzärtlichen Umgang mit sich und der Mitwelt. Sonst trägt das seltsame Früchte.

Frage: Sind Orden und Priesterseminare Schlupflöcher für Menschen, die nicht offen über ihre Sexualität reden wollen? Weil man hofft, hinter dicken Klostermauern oder in der Pfarrei würde man ganz sicher nicht danach gefragt?

Dieterle: Nicht nur – aber auch. Ich erschrecke, wenn ich höre, dass junge Ordensleute Anfang zwanzig sagen, dass sie das Thema Sexualität beim Ordenseintritt abgegeben hätten. Da gehen bei mir alle Alarmglocken los. Deshalb ist es mir wichtig, dies in der Ordensausbildung zu thematisieren. Auch unter dem Aspekt: Wo erlebe ich mich als Frau? Das ist im Orden eine heikle Frage, denn unser Ordensgewand ist ja eher so designt, dass das keine Rolle spielt. Es geht nicht ums Kleiden, sondern um das Verhüllen. Natürlich bin ich nicht nur dann Frau, wenn man meine Kurven sieht. Aber irgendwie macht das Ordenskleid auch asexuell. Und so werde ich oft auch wahrgenommen. Der häufigste Kommentar, den ich höre, wenn mich Leute, die mich nur im Ordensgewand kannten, das erste Mal in Zivil sehen, ist: "Ach, Sie sind ja eine Frau!" Die Frage, wo und wie ich mich in meiner Identität als Frau erlebe, ist je individuell zu beantworten und dann zu pflegen. Aber für eine reife Gestaltung der Sexualität gehört diese Frage meines Erachtens reflektiert. Immer wieder.

3. Synodalversammlung
Bild: ©Julia Steinbrecht/KNA

Vom 8. bis 10. September 2022 findet die vierte Synodalversammlung des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland in Frankfurt am Main statt. Sie wird vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, und der Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Dr. Irme Stetter-Karp, geleitet.

Frage: Hat sich die Kirche bei Fragen der Sexualität aus den Betten im Mehrfamilienhaus und Kloster rauszuhalten?

Dieterle: Ich unterscheide zwischen Inhalt und Methode. Es ist inhaltlich Aufgabe von Religionen, Orientierung zu geben – und dann die Menschen in ihre Verantwortung zu entlassen. Sexualität ist eine Kultur der Zärtlichkeit, das hat viel damit zu tun, ein leibhaftiger Mensch zu sein. Ich möchte schon gerne, dass die Methode, wie ich das gestalte, mir selbst überlassen wird. Dass man mir zutraut, dass ich verantwortungsvoll bin. Und dass mir von Kirche auch positiv unterstellt wird, dass ich das Leben im Sinn habe. Ich glaube, dass die Lehre der Kirche in den Generationen vor mir sehr viel Schaden angerichtet hat. Vor allem wegen der Angst, mit der gehandelt wurde. Die Kirche lehrt schon lange mit einem System der Angst. Ich frage mich oft, was für ein Menschenbild dort eigentlich vorherrscht. Von einem mündigen Menschen scheint man nicht auszugehen. Von klein auf bekommen wir erzählt, dass wir Heiligen Geist in uns tragen, dass wir auf Gottes Stimme hören sollen, dass wir wählen sollen, was dem Leben dient. Und wenn wir es dann tun, heißt es: Ja, aber das steht nicht im Katechismus.

Frage: Die Veränderungen in der Kirche wurden auch durch den Skandal des sexuellen Missbrauchs in Gang gebracht. Begünstigt der Zölibat Missbrauch?

Dieterle: Ich glaube, das Tabuisieren hat den Missbrauch begünstigt, zudem, dass man nicht "gescheit" drüber redet, und das Wegschauen. Wenn man einfach "beschließt", dass man keinen Sex hat oder dass das Thema keine Rolle spielt, fällt einem das irgendwann auf die Füße, denn Sexualität gehört zum Menschsein dazu. Es ist wichtig, sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und eine reife Sexualität zu entwickeln, ob man zölibatär lebt oder nicht. Ich glaube nicht, dass der Zölibat Schuld ist am Missbrauch, sondern die unreife Sexualität. Auch die Orden sind Orte für sexuellen und spirituellen Missbrauch. Sowohl aus der Opfer, wie auch aus der Täterperspektive.

Frage: Was muss sich in diesem Kontext in den Orden ändern?

Dieterle: In Orden gehören ebenfalls mehr Transparenz, bessere Kommunikation und Kontrolle im besten Sinn zu den Hausaufgaben. Auch das Thema Sexualität braucht insgesamt mehr Resonanzboden und Sprachfähigkeit in den Orden. Hier wurde und wird das Thema wie in der Kirche totgeschwiegen. Und man darf nicht unterschätzen, dass insbesondere Frauenorden für eine bestimmte Generation auch Zuflucht waren, um dem Missbrauch zu Hause zu entgehen. 

Frage: Bei der Zukunftsfrage der priesterlichen Lebensform wird intensiv über den Pflichtzölibat diskutiert. Dabei wird der Blick allerdings nicht auf Ordensleute gerichtet.Was meinen Sie, braucht es die Abschaffung der Zölibatsverpflichtung für Ordensleute?

Dieterle: Wer sich zum Dienst des Priesters berufen fühlt und diesen Beruf ergreift, "kauft" quasi die zölibatäre Lebensform mit. Wenn ich mich zum Ordensleben entscheide, wähle ich die Lebensform unabhängig von meinem Beruf. Und ich lebe sie nicht allein. Ich lebe in Gemeinschaft. Ich glaube, dass das ein Unterschied ist. Ich bin für die Abschaffung des Pflichtzölibats. Man sollte eher darüber nachdenken, wie man für Priester, die sich außer zu ihrem Beruf auch zur zölibatären Lebensform berufen fühlen, Formen der Verbundenheit und der Gemeinschaft schaffen kann. Ordensleben wiederum ohne Zölibat ist nicht das Ordensleben im eigentlichen Sinn. Und es gibt bereits Möglichkeiten, sich als Verheiratete oder als Familie spirituellen Gemeinschaften anzuschließen. 

Von Marcus Leitschuh

"Wir können auch anders"

Marcus Leitschuh (Hrsg.) und Katharina Kluitmann (Hrsg.): Wir können auch anders! Der Beitrag der Orden zum Synodalen Weg und für die Zukunft der Kirche © Vier-Türme GmbH Verlag Münsterschwarzach  2022. Das Buch kostet 20 Euro.