Keine neue Sexualethik ohne Beschäftigung mit Geschlechtsidentitäten
In der Plenumsdebatte wie in den Pausengesprächen gab es auf der letzten Vollversammlung des Synodalen Weges unzweideutige Hinweise darauf, warum manche Synodale und insbesondere knapp 40 Prozent der mitstimmenden Bischöfe ihre Zustimmung zum Grundlagentext "Leben in gelingenden Beziehungen – Wegmarken einer erneuerten Sexualethik" verweigerten. Der Stein des Anstoßes: die Ausführungen zur Vielfalt geschlechtlicher Identitäten. Atme der Text, so die Vorbehalte, nicht offensichtlich den Geist einer "Genderideologie", die die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen leugne? Oder die eine Entkopplung des biologischen vom sozialen Geschlecht fordere und zu einem verheerenden Dualismus von Leib und Seele führe? Oder die sogar bis zur Vorstellung reiche, dass Menschen beliebig ihr Geschlecht wählen könnten – heute Cis-Frau, morgen Trans*mann, übermorgen divers?
Solche Vorbehalte wiegen schwer. Sie müssen ausgeräumt werden – nicht nur, weil sie ansonsten notwendige Entwicklungen in der katholischen Sexualethik verzögern. Sie blockieren vor allem den Anschluss an wichtige Erkenntnisse der Humanwissenschaften. Und sie erschweren den Abbau von Ressentiments gegenüber queeren Menschen. Gegenüber Menschen also, die quer zu den üblichen "Normal"-Standards von männlich oder weiblich stehen; die als Trans*frau oder Intersex*Person um die gleiche Anerkennung ihrer Menschenwürde, ja ihrer Gottebenbildlichkeit kämpfen. Doch finden diese Vorbehalte im kritisierten Grundtext tatsächlich einen sachlichen Anhalt?
Fast zeitgleich zu den Beratungen des Synoden-Plenums veröffentlichte die Australische katholische Bischofskonferenz ein bemerkenswertes Dokument: "Created and Loved. A guide for Catholic schools on identiy and gender". Bemerkenswert an diesem Dokument sind weniger seine pastoralen Richtlinien, die einen anerkennenden und wertschätzenden Umgang mit Schülerinnen und Schülern aus dem Transgender- bzw. Intersex-Spektrum einfordern. Die Absage an Diskriminierung aller Art ist auch für katholische Schulen überraschungsfrei. Sie dürfte überall auf Zustimmung stoßen. Jede Schülerin und jeder Schüler ist Geschöpf Gottes und als solches unbedingt geliebt. Deshalb sind auch Trans*Studierende oder Inter-sex*Schüler*innen in ihrer geschlechtlichen Identität in jeder katholischen Schule zu achten und in ihrer Entwicklung zu unterstützen ("care").
Bemerkenswert an diesem wegweisenden Dokument ist vielmehr dessen theologisch-anthropologische Grundlegung. Knapp, aber sehr sorgfältig erläutern die Bischöfe vom Standpunkt eines "christlichen Menschenbildes" das humanwissenschaftlich informierte Zueinander von biologischem und sozialen Geschlecht, also von sex und gender. Und sie identifizieren bereits im biologischen Geschlecht ("sex") die Anlage einer beachtlichen Spannbreite, wie Menschen ihr je spezifisches biologisches Geschlecht erfahren und ausdrücken. Wiederum greifen die Bischöfe auf humanwissenschaftliche Erkenntnisse zurück: Vom Zeitpunkt der Zeugung an entwickelt sich in einem komplexen genetischen und hormonellen Prozess bereits im Mutterleib für jede einzelne Person "a unique set of male or female characteristics". Diese je einzigartige biologische Prägung als Mann oder Frau verbindet sich lebensgeschichtlich mit dem sozialen Geschlecht ("gender"). Das soziale Geschlecht wiederum ist durch vielfältige Faktoren beeinflusst: durch frühkindliche Erfahrungen, durch Erwartungshaltungen der Familie oder der Schule oder auch durch allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Prägemuster.
Geschlechtliche Identität bildet sich in einem komplexen Prozess aus
So kommt es zu einer "much natural variation, in how individuals experience their masculinity or feminity", also zu einer großen natürlichen Vielfalt, wie Menschen ihre Männlichkeit und Weiblichkeit erfahren. In Ausnahmefällen können sich widersprüchliche Erfahrungen zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtszugehörigkeit zu einer anhaltenden "gender dysphoria", also Geschlechtsidentitätskrise, entwickeln. Hält diese Krise dauerhaft an, kann sie in bestimmten Fällen zur Angleichung ("transition") der biologischen Geschlechtsmerkmale an das gefühlte und erfahrene Geschlecht führen. Aber gerade auch diese Krise der geschlechtlichen Identität und eine mögliche Angleichung zum Transgender unterstreicht die unauflösbare Verknüpfung von biologischem und soziokulturellem Geschlecht.
Warum ich die australischen Bischöfe so ausführlich zitiere? "Created & loved" könnte die Blaupause geliefert haben für die Überlegungen zur Geschlechtsidentität, die der Grundlagentext als Wegmarke 2 ("Sexuelle Identität in ihrer Vielfalt über die ganze Lebensspanne würdigen") zusammenfasst. Zunächst macht diese Wegmarke auf die Unterscheidung zwischen der sexuellen Orientierung (Hetero-, Homo-, Bi- und Asexualität) und der Geschlechtsidentität eines Menschen aufmerksam. Beide zusammen bilden seine sexuelle Identität. Und nochmals: Die geschlechtliche Identität bildet sich in einem komplexen biopsychosozialen Prozess heraus, der bereits auf einer natürlichen Varianz des biologischen Geschlechts aufruht. Denn auch das biologische Geschlecht verdankt sich keiner einlinigen und invarianten Entwicklung. Er resultiert aus einem komplexen Prozess, in dem genetische und epigenetische (hormonelle usw.) Faktoren zusammenwirken. Manchmal führen solche Prozesse dazu, dass eine eindeutige Zuordnung zu weiblich oder männlich unmöglich ist. Dieses Faktum wird Intersexualität, Intergeschlechtlichkeit oder auch inter* ("dazwischenliegend") genannt.
Auf Vorbehalte stößt hier regelmäßig die Rede von einer nicht-binären Zuordnung des biologischen Geschlechts. Auch die australischen Bischöfe verwenden diese Rede. Sie aber steht im Verdacht, die Realität von klar unterscheidbar Männlichem und Weiblichem oder deren Bedeutung für die Entwicklung einer geschlechtlichen Identität zu leugnen. Nichts davon trifft zu. Was allerdings zurückgewiesen wird ist die Auffassung, dass die Anlage des biologischen Geschlechts eine strikt binäre Zuordnung zu männlich oder weiblich gestatte. Selbst im statistischen Regelfall, bei denen chromosomale Veränderungen ("Mosaikbildungen") nicht zur Intersexualität führen, kommt es zu Varianzen, die sich zwischen den Polen "männlich" und "weiblich" bewegen. Genau das haben auch die australischen Bischöfe anerkannt.
Der Grundtext des Synodalforums IV folgt hier den Einsichten, die sich etwa in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates aus dem Jahre 2012 zu Fragen der Intersexualität finden. Ausführlich rekonstruiert der Ethikrat – immerhin in breitgefächerter interdisziplinärer Besetzung und unter Beteiligung von katholischen Theologen – den Entstehungsprozess des biologischen Geschlechts. Er kommt zu dem Schluss: "Das hormonale Geschlecht ist im Unterschied zum genetischen Geschlecht nicht typologisch binär (das heißt strikt männlich oder strikt weiblich), sondern prägt sich auf einer gleitenden Skala aus, bei der der individuelle Status auch zwischen den beiden Polen liegen kann."
Deshalb, so können wir schließen, gilt schon mit Blick auf das biologische Geschlecht: bipolar, statt strikt binär. Wir kennen die Sprache des Binären aus der Welt des Digitalen: Alle Informationen sind im binären Code "0" oder "1" verschlüsselt. Dazwischen gibt es nichts. Ein binäres Geschlechterverhältnis kennt deshalb nur ein exaktes "entweder-oder". Ein bipolares Verständnis ist offen für eine Vielzahl von Nuancierungen. Nur dieses bildet die biologische Wirklichkeit geschlechtlicher Vielfalt angemessen ab. In Kombinationen mit dem sozialen Geschlecht weitet sie sich zu einer Fülle unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten. Keine dieser humanwissenschaftlich informierten Vernunfteinsichten widersprechen dem christli-chen Menschenbild. Das konstatieren ausdrücklich auch die australischen Bischöfe. Voraussetzung ist, dass man sich von manch schrillen Tönen der Gender-Debatte nicht beeindrucken lässt, sondern nüchtern die Befunde humanwissenschaftlicher Expertise aufgreift. Der Grundtext "Leben in gelingenden Beziehungen – Wegmarken einer erneuerten Sexualethik" versucht dies. Behutsam, für manche vielleicht schon zu betulich. Mit Sicherheit aber unvermeidlich.
Bleibt am Ende nur die Frage: Muss der "Weg zu einer erneuerten Sexualethik" unbedingt auch die Wegmarke "geschlechtlicher Identitäten" passieren? Auf den ersten Blick scheint – wie gelegentlich auch auf der Synodalversammlung gemutmaßt wurde – diese Wegmarke verzichtbar. Immerhin beschäftigt sich eine Sexualethik für gewöhnlich mit sexuellen Orientierungen, Präferenzen und Praktiken. Auch Trans*Personen können wie Cis*Personen heterosexuell, bisexuell oder homosexuell orientiert sein. Reicht das nicht? Nein. Denn ein Verzicht auf die "Wegmarke 2: Sexuelle Identität in ihrer Vielfalt über die ganze Lebenspanne würdigen" wäre fatal. Endlich haben wir es geschafft, Sexualethik als Beziehungsethik zu verstehen: als Beziehung zwischen Menschen, die sich in Achtung ihrer "identity and gender" leibhaftig und lustvoll erfahren wollen. Eine "erneuerte" Sexualethik aber, die Fragen der geschlechtlichen Identität ausklammern würde – womöglich sogar nur aus reiner kirchenpolitischer Opportunität –, eine solche Sexualethik würde die personale Identität des Menschen faktisch erneut halbieren. Dann lieber keine "erneuerte" Sexualethik, deren "Neuigkeit" weit hinter den seit langem allen zugänglichen Einsichten über Sinn und Gestaltung menschlicher Sexualität zurückbleibt.