Kaplan im Regierungspalast: Wie dieser Priester den Präsidenten berät
Ein offizieller Hausgeistlicher im Bundeskanzleramt oder im Schloss Bellevue? Was in Deutschland undenkbar wäre, hat in Chile eine lange Tradition. Im Regierungspalast La Moneda in Santiago de Chile ist der 41-jährige Priester Nicolás Viel seit Mai für die Seelsorge zuständig. Der Ordensmann erzählt im Interview mit katholisch.de, wie seine Arbeit aussieht, ob Präsident Gabriel Boric auch zu den Gottesdiensten kommt und wie man in Chile auf die Kirche in Deutschland blickt.
Frage: Sie sind der Kaplan des Präsidentenpalastes La Moneda in Santiago de Chile. In Deutschland gibt es ein vergleichbares Amt nicht. Was sind Ihre Aufgaben?
Viel: In Chile hat dieses Amt eine Tradition, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht, und war lange Zeit katholischen Priestern vorbehalten. Heutzutage gibt es drei Kapläne in der Moneda: Ich bin der Vertreter der katholischen Kirche, dann gibt es eine evangelisch-lutherische Pfarrerin und einen jüdischen Rabbiner. Unsere Aufgabe ist es, sowohl dem Präsidenten und seinen Ministern als auch den Regierungsbeamten spirituell zur Seite zu stehen. Außerdem verstehen wir uns als Verbindung der Kirchen und der Basis der Gläubigen zur Regierung. Dazu gehört auch, verschiedene kirchliche Gruppen im Regierungsgebäude willkommen zu heißen, etwa bei religiösen Zeremonien, Gebeten oder Festakten.
Frage: Die Feier dieser Gottesdienste ist also Ihre wichtigste Aufgabe?
Viel: Das könnte man so sagen. In der Moneda gibt es eine katholische Kapelle, die wir uns mit unseren evangelischen Mitchristen teilen. Dort werden unterschiedliche religiöse Feiern veranstaltet, so haben wir uns dort am 11. September zusammengefunden, dem 49. Jahrestag des Militärputsches 1973 in Chile, der zur Diktatur von General Augusto Pinochet geführt hat. Damals wurde der Präsidentenpalast vom Militär bombardiert und der damalige sozialistische Präsident Salvador Allende fand den Tod. Wir haben in der Zeremonie der Opfer der Diktatur gedacht. Dazu waren verschiedene Gruppen eingeladen, die sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen, oder Angehörige von Menschen, die während der Diktatur festgenommen, verschleppt oder getötet wurden. Auch Familienmitglieder sowohl der Opfer als auch der damaligen Täter in den Folterkellern waren anwesend – eine beeindruckende Gruppe, die sich für Versöhnung einsetzt. Wir drei Kapläne hatten zu diesem Gedenken an die Opfer der Diktatur eingeladen.
Frage: Haben Sie auch direkten Kontakt zum momentanen chilenischen Präsidenten Gabriel Boric?
Viel: Ja, natürlich. Manchmal sehen wir uns auf den Gängen des Regierungspalastes oder nehmen gemeinsam an Festakten oder Treffen teil. Der Präsident ist sehr an unserer Arbeit interessiert. Bei den regelmäßigen Gottesdiensten ist er aber meist nicht dabei – das lässt sein voller Kalender nicht zu. Da auch fünf Ministerien ihren Sitz in der Moneda haben, treffe ich dort auch einige der engsten politischen Mitarbeiter des Präsidenten. Die jetzige Regierung setzt sich zwar aus vielen jungen Menschen zusammen, die keine kirchlich geprägte Spiritualität haben, aber ich nehme dennoch Respekt und ein großes Interesse am Religiösen wahr. Uns verbindet der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft, auch wenn wir nicht den gleichen Glauben teilen.
Frage: Von Boric ist bekannt, dass er sich selbst nicht als Christ sieht. Ist das ein Problem für Ihre Arbeit?
Viel: Boric sagt von sich, dass er ein Agnostiker ist. Aber ich nehme ihn als sehr offen für religiöse Themen wahr. Er stammt aus einer Familie mit unter anderem kroatischen Wurzeln, in der der katholische Glauben wichtig ist, besonders für seine Mutter. Er kennt die katholische Tradition und respektiert sie. So nimmt er mit seiner Regierung jedes Jahr zum Nationalfeiertag am 18. September an den verschiedenen offiziellen Gottesdiensten zu diesem Anlass teil. Es gibt mehrere Aspekte im Leben des Präsidenten, die eine direkte Verbindung mit dem Evangelium haben: die Nähe zum Volk und die Sorge um die Leidenden und Benachteiligten.
Frage: Sie sind Anhänger der Befreiungstheologe und setzen sich für eine solidarische Gesellschaft in Chile ein. Das verbindet sie mit Präsident Boric, der einer linken Partei angehört. Wurden Sie deshalb als katholischer Kaplan des Regierungspalastes ausgewählt?
Viel: Ich fühle mich als Priester in Chile der lateinamerikanischen Theologie verpflichtet, in der die sogenannte Option für die Armen eine bedeutende Rolle spielt. Es gibt daher in der Tat viele Schnittstellen mit der Politik, für die Boric steht. Mit meiner Meinung bin ich nicht allein: Während des Wahlkampfes um das Präsidentenamt Anfang des Jahres gab es eine Gruppe, die sich "Katholiken für Boric" nannte. Dort engagierten sich viele Basisgemeinden – katholische wie evangelische. Diese Menschen leben in Stadtteilen mit viel Armut und sehen in Borics Politik für ein soziales und gerechteres Chile die meisten Übereinstimmungen mit dem Evangelium.
Frage: Sie haben vor Ihrem Eintritt in den Orden der Arnsteiner Patres ein Jura-Studium absolviert und sind Anwalt. Einige der heutigen Regierungsmitglieder waren Ihre Kommilitonen. Erleichtert das Ihre Arbeit in der Moneda?
Viel: Wir kennen und schätzen uns, zudem stammen wir alle aus der gleichen Generation, denn es ist ja eine junge Regierung: Der Präsident ist 36 Jahre alt und seine Minister sind auch in ihren 30ern. Wir teilen die sozialen und politischen Anliegen, die so etwas wie ein Projekt unserer Generation sind. Begonnen hat das alles mit den Studentenprotesten 2011. Die Anführer von damals sind heute in politischer Verantwortung. Ich habe dann das Priestertum gewählt und bin in meine Ordensgemeinschaft eingetreten, aber ich fühle mich den Anliegen meiner Generation verpflichtet. Es liegt an uns, Chile zu einem Land zu machen, das inklusiver, gerechter und pluraler ist.
Frage: Verstehen Sie sich auch als Lobbyist der Kirche bei der Regierung?
Viel: Die Mitglieder der Regierung und ihre Mitarbeiter bitten uns Kapläne oft um unsere Meinung, wenn sie Fragen zu religiösen Themen oder zur Kirche haben. Unsere Stimme wird gehört, gerade in dieser Regierung. Aber es gibt auf kirchlicher Seite natürlich auch Personen, deren Aufgabe es ist, formelle Kontakt zur Politik zu pflegen.
Frage: Es gibt auch Kritik an dem Amt der Kapläne in der Moneda – etwa, dass es nicht mehr zeitgemäß sei.
Viel: Chile ist heute natürlich ein weltanschaulich neutraler Staat. Ein großer Vorteil des Kaplansamtes ist jedoch, dass auf diese Weise ein direkter Zugang des Staats zu den religiösen Gemeinschaften und der Basis der Gesellschaft besteht. Dieser Kommunikationskanal zwischen der Politik und den Kirchen ist etwas sehr Wertvolles. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass die Religionen eine große Bedeutung für die demokratischen Gesellschaften haben: Sie besitzen große Sensibilität für das Gescheiterte, für das, was nicht funktioniert. Sie können der Politik aufzeigen, wo es Wunden in der Gesellschaft gibt und welche Fehler im System zu menschlichem Leid führen – das nimmt der säkulare Staat oft nicht wahr. Die Kirche ist in Chile heute nicht mehr so wichtig wie in der Vergangenheit. Aber sie dringt immer noch in Räume vor, die den staatlichen Behörden verschlossen bleiben.
Frage: Es braucht also keine Veränderungen am Amt der Kapläne?
Viel: Natürlich muss man über Anpassungen nachdenken. Aber aufgrund meiner Erfahrung in den vergangenen Monaten ist es ein spiritueller und seelsorglicher Dienst, der gute Früchte hervorbringt. Auf diese Weise können die Anliegen gesellschaftlicher Randgruppen in das Herz der Regierung hineingetragen werden.
Frage: Chile ist normalerweise nicht besonders stark im Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Anfang September war das Land jedoch in den Nachrichten vertreten, weil über den Entwurf für eine neue Verfassung abgestimmt wurde. Sie sollte die jetzige ersetzen, die noch aus der Diktatur stammt. Letztlich war dieses Projekt nicht erfolgreich. Wie ist die Situation in Chile aktuell?
Viel: Seit Oktober 2019 ist die politische und gesellschaftliche Situation in Chile sehr angespannt: Bei der sogenannten "sozialen Explosion" kam damals der drängende Wunsch nach Veränderungen in der Gesellschaft hoch. Das führte dazu, dass eine Versammlung ins Leben gerufen wurde, die eine neue Verfassung erarbeiten sollte, die dem aktuellen Grundgesetz aus der Zeit der Pinochet-Diktatur ein Ende setzen sollte. Etwa 80 Prozent der Chilenen stimmten für diesen Weg aus der Krise. Die Verfassungsgebende Versammlung wurde paritätisch mit Frauen und Männern besetzt und umfasste auch Mitglieder aus den indigenen Völkern. Der von diesem Gremium vorgelegte Verfassungsentwurf wurde jedoch im September klar abgelehnt. Es ist auch nach vielen Diskussionen nicht gelungen, die Wünsche der Chilenen nach Veränderung so aufzugreifen, dass eine Mehrheit zustimmen konnte. Das war ein wichtiges Zeichen, dass die Veränderungen zu radikal waren und schrittweise erfolgen müssen. Das Ergebnis der Volksabstimmung kam unerwartet, auch die Umfragen konnten es nicht vorhersagen. Jetzt befinden wir uns in einem Zustand großer gesellschaftlicher Unsicherheit. Die politischen Parteien verhandeln miteinander, wie man in einem zweiten Anlauf doch noch zu einer neuen Verfassung kommen könnte. Denn allen ist klar, dass es Reformen in Chile braucht, die strukturell tiefgreifend sind.
Frage: Der Verfassungsentwurf sah zwar weitreichende Reformen für eine gerechtere Gesellschaft vor, hätte aber auch Abtreibungen legalisiert – ein Punkt, der vielen Katholiken die Zustimmung zum Entwurf sicher schwer gemacht hat.
Viel: Im Verfassungsentwurf wurden Abtreibungen nicht explizit erlaubt, aber er hätte das Recht eingeräumt, Gesetzesentwürfe zum Thema einzubringen. Das widerspricht der kirchlichen Lehre strikt und war sicher ein Grund, warum viele Katholiken den Vorschlag abgelehnt haben. Aber es gab auch viele Gläubige, die dem Entwurf zugestimmt haben. Denn er enthielt die Garantie von sozialen Rechten, die es zuvor in Chile noch nie gegeben hatte. Die aktuelle Verfassung schreibt für das Land ein neoliberales Wirtschaftsmodell vor. In sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen ist das Leben der Chilenen privatisiert, besonders die Bildung, das Gesundheitssystem und die Rente. Das hat trotz des großen wirtschaftlichen Fortschritts in den vergangenen Jahren eine sehr tiefe Wunde der Ungleichheit und Ungerechtigkeit in die chilenische Gesellschaft geschlagen. Die neue Verfassung hingegen hätte es uns ermöglicht, von einem Staat, der nur den einzelnen Bürger in der Pflicht sieht, zu einem Sozialstaat zu werden.
Frage: Nicht nur der chilenische Staat, auch die Kirche in Chile befindet sich in einer tiefgreifenden Krise.
Viel: In der Tat, die Kirche in Chile befindet sich in einer tiefgreifenden Krise hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und auch spirituell. Der Hauptgrund dafür sind die vielen Missbrauchsfälle, sowohl von Diözesan- als auch von Ordenspriestern. Viele dieser Fälle werden heute aufgearbeitet und den Betroffenen wird Gerechtigkeit zuteil. Wegen des enormen Vertrauensverlustes aufgrund der Missbrauchsfälle hat die Kirche heute keine einflussreiche Stimme in der Gesellschaft mehr. Es gibt Reformen, deren vordringlichstes Ziel die Prävention von Missbrauch ist, doch sie kommen nur sehr langsam voran. Wir brauchen eine neue Kultur, Kirche zu sein, ohne Klerikalismus. Die Gemeinschaft sollte der Hauptprotagonist sein und Frauen darf die Anerkennung nicht länger verweigert werden.
Frage: Waren das auch die Ergebnisse der diözesanen und nationalen Phase des weltweiten synodalen Prozesses in Vorbereitung auf die Weltbischofssynode, die auf der ganzen Welt und eben auch in Chile stattgefunden hat?
Viel: Der synodale Prozess ist in Chile leider nicht in allen Diözesen auf die gleiche Resonanz gestoßen, zum Teil wurde er sogar von den Bischöfen und Priestern ausgebremst, die möchten, dass alles bleibt wie es ist. Einige Hirten wollten nicht, dass die Stimme des Kirchenvolkes gehört wird. Aber ich denke, dieser synodale Prozess wird in der ganzen Welt dazu beitragen, eine Kirche zu schaffen, in der die Gemeinschaft und die Stimmen der Laien wichtiger werden, in der man die Diversität in der Weltkirche respektiert. Die Kirche hängt etwa bei der Inklusion der Frauen stark hinterher. Heute kann es doch nicht sein, dass es in der Gesellschaft eine Institution gibt, die in ihren internen Strukturen Werte wie Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt nicht lebt. Das Überleben der Kirche und ihre Zukunft hängt davon ab, ob sie es schafft, die Frauen in ihre Strukturen zu inkludieren und ihre Arbeit anzuerkennen.
Frage: Ist die Kirche auch in der Krise, weil sich viele Gläubige den evangelikalen Kirchen zuwenden?
Viel: Eine viel größere Herausforderung für die Kirche ist es etwas anderes: Bei vielen Menschen leben der Glaube und die Spiritualität in ihren Herzen weiter, aber sie gehören keiner religiösen Gemeinschaft mehr an. Es gibt die Tendenz zu einer autonomen und individualistischen Spiritualität. Das ist in meinen Augen nicht gut, denn ein essenzielles Element des christlichen Glaubens ist die Gemeinschaft: die gemeinsame Arbeit, der gemeinsame Sehnsucht, die gemeinsame Feier. In gewisser Weise wird die religiöse Erfahrung privatisiert – deshalb sind die Kirchen heute leer und die Institution hat keine Stimme von Gewicht in der Öffentlichkeit mehr. Das würde ich nicht in erster Linie negativ beurteilen. Es ist Teil eines gesellschaftlichen und spirituellen Prozesses der Erneuerung, der eben auch die Kirche betrifft. Die Gefahr besteht, dass die zukünftigen Generationen ihren Glauben ohne die Institution Kirche leben. Nicht die anderen Religionen oder Konfessionen sind eine Bedrohung für die Kirche, sondern sie ist in gewisser Weise selbst ihre größte Bedrohung. Karl Rahner hat einmal geschrieben, dass gläubige Menschen den Geist entzünden oder auslöschen können. Derzeit gibt es viele Dinge in der Kirche, die den Geist auslöschen: der Klerikalismus, das hierarchische Denken, die Distanz zu den Armen, der Missbrauch. Die Kirche schrumpft zahlenmäßig, aber auch in Bezug auf ihren Glaubenseifer, aufgrund der Widersprüche gegen das Evangelium, die sich in ihr selbst finden.
Frage: In Deutschland haben wir ganz ähnliche Probleme, die wir versuchen, mit dem Synodalen Weg anzugehen. Wäre ein solcher Prozess auch in Chile denkbar?
Viel: In Lateinamerika beobachten wir die Kirche in Deutschland sehr genau, denn sie erhebt ihre Stimme und hat eine eigene Identität, die auch darin besteht, Themen auf den Tisch zu legen, die für die gesamte Weltkirche von Bedeutung sind. In diesem Sinne ist die Kirche in Deutschland prophetisch und es gibt Teile der Kirche in Chile, die deshalb mit Bewunderung auf sie schauen. Heute wäre ein verstärkter Dialog zwischen der Kirche in Deutschland und der Kirche in Lateinamerika sehr interessant, wie es ihn schon in den 1960er- und 70er-Jahren mit der politischen Theologie und der Theologie der Befreiung gab. In gewisser Weise wurde unsere lateinamerikanische Theologie in Europa mehr wertgeschätzt als auf unserem Kontinent. Wir sollten die Brücke zwischen diesen beiden Kirchen wieder herstellen – vielleicht auch durch einen synodalen Prozess in unserem Land.