Papst Franziskus ruft Kirche mit dramatischen Worten zur Einheit auf
Mit einem feierlichen Gottesdienst hat Papst Franziskus am Dienstag im Petersdom an das Zweite Vatikanische Konzil vor 60 Jahren erinnert. Dabei rief das Kirchenoberhaupt die katholische Kirche mit dramatischen Worten zur Einheit auf. Das letzte weltweite Konzil war am 11. Oktober 1962 von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) eröffnet worden und hatte weitreichende Reformbeschlüsse gefasst. Seither hat es in der katholischen Kirche immer wieder theologische und kirchenpolitische Richtungsdebatten gegeben, die bis zum heutigen Tag anhalten.
Zum Gottesdienst zogen mehrere hundert Priester, Bischöfe und Kardinäle in feierlicher Prozession in den Petersdom ein und erinnerten damit an den Einzug der mehr als 2.000 Konzilsväter vor 60 Jahren. Damals wurde Papst Johannes XXIII. in einer Sänfte getragen, diesmal lagen seine sterblichen Überreste in einem Glas-Sarkophag aufgebettet im Altarraum des Petersdoms. Nach dem Schlusssegen sollten die Teilnehmer des Gottesdienstes mit brennenden Kerzen aus der Kirche auf den Petersplatz ziehen, auch dies in Erinnerung an einen ähnlichen Akt vor 60 Jahren.
"Der Teufel will das Unkraut der Spaltung säen"
In seiner Predigt mahnte Papst Franziskus mit eindringlichen Worten, die Polarisierungen in der Kirche zu überwinden. Wörtlich sagte er: "Der Teufel will das Unkraut der Spaltung säen. Erliegen wir nicht seinen Täuschungen, erliegen wir nicht der Versuchung der Polarisierung." Zu oft hätten sich Christen nach dem Konzil "für eine Seite in der Kirche entschieden" und damit "das Herz ihrer Mutter zerrissen". Statt Diener aller sein zu wollen, habe man "Anhänger der eigenen Gruppierung" sein wollen: "Progressive und Konservative statt Brüder und Schwestern, 'der Rechten' oder 'der Linken' statt Jesus zugehörig".
Weiter sagte der Papst: "Der Herr will uns nicht so haben: Wir sind seine Schafe, seine Herde, und wir sind das nur gemeinsam, vereint. Überwinden wir die Polarisierungen und bewahren wir die Gemeinschaft, werden wir mehr und mehr eins ..." Mit Blick auf das Konzil vor 60 Jahren sagte der Papst, mit ihm habe die Kirche sich zum ersten Mal in der Geschichte dem Nachdenken über ihr eigenes Wesen und ihre Sendung gewidmet und sich dabei neu als Volk Gottes und als Leib Christi entdeckt.
"Kehren wir zum Konzil zurück, um aus uns selbst herauszugehen"
Dennoch bestehe weiterhin "die Versuchung, dass wir vom eigenen Ich statt von Gott ausgehen, dass wir unsere Ziele über das Evangelium stellen, uns vom Wind der Weltlichkeit mitreißen lassen und den Moden der Zeit hinterherjagen, dass wir die Gegenwart ablehnen, die uns die Vorsehung schenkt, und uns nach der Vergangenheit umwenden. Doch Vorsicht: Sowohl der Progressivismus, der sich der Welt anpasst, als auch der Traditionalismus, der einer vergangenen Welt nachtrauert, sind keine Beweise der Liebe, sondern der Untreue." Weiter betonte Franziskus, die Kirche solle von Freude erfüllt sein: "Eine Kirche, die Jesus liebt, hat keine Zeit für Auseinandersetzungen, Gift und Polemik. Gott befreie uns vom Kritisieren, von Unduldsamkeit, Härte und Wut."
Die katholische Kirche rief der Papst auf, zum Konzil zurückzukehren, "das den lebendigen Fluss der Tradition wiederentdeckt hat, ohne in den Traditionen zu erstarren". Und weiter: "Kehren wir zum Konzil zurück, um aus uns selbst herauszugehen und die Versuchung der Selbstbezogenheit zu überwinden." Die Kirche solle "die Nostalgie der Vergangenheit, die Trauer um den Bedeutungsverlust, die Anhänglichkeit an die Macht" überwinden. (KNA)
Die Predigt von Papst Franziskus im Wortlaut
Papst Franziskus hat am Dienstag im Petersdom in einem Festgottesdienst an die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren erinnert und die Kirche mit eindringlichen Worten zur Einheit aufgerufen. Die größte Bischofsversammlung der Kirchengeschichte wurde am 11. Oktober 1962 von Papst Johannes XXIII. eröffnet. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge aus seiner Predigt.
(...) Um ihre Liebe neu zu beleben, widmete die Kirche zum ersten Mal in der Geschichte ein Konzil der Selbstbefragung, dem Nachdenken über ihr eigenes Wesen ihre Sendung. Und sie entdeckte sich selbst wieder als Geheimnis der Gnade, das aus der Liebe hervorgeht: Sie entdeckte sich neu als Volk Gottes, als Leib Christi, als lebendiger Tempel des Heiligen Geistes! Das ist der erste Blick, mit dem man auf die Kirche schauen muss, der Blick von oben. Ja, die Kirche muss zuerst von oben betrachtet werden, mit Gottes liebenden Augen. Fragen wir uns, ob wir in der Kirche von Gott ausgehen, von seinem liebenden Blick auf uns. Es besteht immer die Versuchung, dass wir vom eigenen Ich statt von Gott ausgehen, dass wir unsere Ziele über das Evangelium stellen, uns vom Wind der Weltlichkeit mitreißen lassen und den Moden der Zeit hinterherjagen, dass wir die Gegenwart ablehnen, die uns die Vorsehung schenkt, und uns nach der Vergangenheit umwenden. Doch Vorsicht: Sowohl der Progressivismus, der sich der Welt anpasst, als auch der Traditionalismus der Rückwärtsgewandtheit, der einer vergangenen Welt nachtrauert, sind keine Beweise der Liebe, sondern der Untreue. (...)
Entdecken wir das Konzil neu, um Gott den Vorrang zurückzugeben, und dem, was wesentlich ist: einer Kirche, die verrückt ist vor Liebe zu ihrem Herrn und zu allen Menschen, die von ihm geliebt sind; einer Kirche, die reich an Jesus und arm an Mitteln ist; einer Kirche, die frei und befreiend ist. Das Konzil weist der Kirche diesen Weg: Es bringt sie dazu, wie Petrus im Evangelium nach Galiläa zurückzukehren, zum Quell ihrer ersten Liebe, um in ihrer Armut die Heiligkeit Gottes wiederzuentdecken (vgl. Lumen gentium, 8c; Kap. V), um im Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn die verloren gegangene Freude wiederzufinden, um sich auf Jesus zu konzentrieren. (...)
Lasst uns die Leidenschaft des Konzils wiederentdecken und unsere Leidenschaft für das Konzil erneuern! In das Geheimnis der Kirche – Mutter und Braut – eingetaucht, wollen auch wir mit Johannes XXIII. sagen: Gaudet Mater Ecclesia! (Ansprache bei der Konzilseröffnung, 11. Oktober 1962). Die Kirche soll von Freude erfüllt sein. Wenn sie sich nicht freut, verleugnet sie sich selbst, weil sie die Liebe vergisst, die sie erschaffen hat. Doch wie vielen von uns gelingt es nicht, den Glauben freudig zu leben, ohne zu murren und herumzukritisieren? Eine Kirche, die Jesus liebt, hat keine Zeit für Auseinandersetzungen, Gift und Polemik. Gott befreie uns vom Kritisieren, von Unduldsamkeit, Härte und Wut. (...)
Wie aktuell ist doch das Konzil: Es hilft uns, der Versuchung zu widerstehen, uns in den Schutz unserer Bequemlichkeit und unserer Überzeugungen einzuschließen, um den Stil Gottes nachzuahmen, den der Prophet Ezechiel uns heute beschreibt: "Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen" (vgl. Ez 34,16). (...)
Die Kirche hat das Konzil nicht abgehalten, um sich selbst zu bewundern, sondern um sich zu verschenken. Tatsächlich existiert unsere heilige hierarchische Mutter, die aus dem Herzen der Dreifaltigkeit hervorgegangen ist, um zu lieben. Sie ist ein priesterliches Volk (vgl. Lumen gentium, 10 ff.): Sie braucht sich nicht vor den Augen der Welt auszuzeichnen, sondern sie muss der Welt dienen. Vergessen wir das nicht: Das Volk Gottes ist von Anfang an nach Außen gerichtet und es wird wieder jung, wenn es sich hingibt, denn es ist das Sakrament der Liebe (...)
Brüder und Schwestern, kehren wir zum Konzil zurück, das den lebendigen Fluss der Tradition wiederentdeckt hat, ohne in den Traditionen zu erstarren; das die Quelle der Liebe wiederentdeckt hat, nicht um auf dem Berg zu bleiben, sondern damit die Kirche ins Tal hinabsteige und ein Kanal der Barmherzigkeit für alle werde. Kehren wir zum Konzil zurück, um aus uns selbst herauszugehen und die Versuchung der Selbstbezogenheit zu überwinden. Weide, so sagt der Herr zu seiner Kirche von Neuem; und indem du weidest, überwinde die Nostalgie der Vergangenheit, die Trauer um den Bedeutungsverlust, die Anhänglichkeit an die Macht, denn du, das heilige Volk Gottes, bist ein Hirtenvolk: du bist nicht dazu da, dich selbst zu weiden, sondern die anderen, alle anderen, mit Liebe. Und wenn es richtig ist, für jemanden besondere Sorge zu tragen, dann für die von Gott besonders Geliebten: für die Armen, die Ausgestoßenen (vgl. Lumen gentium, 8c; Gaudium et spes, 1); um, wie Papst Johannes sagte, "die Kirche aller, besonders der Armen" zu sein (Radioansprache an die Gläubigen in aller Welt einen Monat nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, 11. September 1962).
Liebst du mich? Weide – so schließt der Herr – meine Schafe. Er meint damit nicht nur einige, sondern alle, denn er liebt sie alle, alle nennt er liebevoll "meine". Der gute Hirte sieht und will seine Herde vereint unter der Führung der Hirten, die er ihm gegeben hat. Er will – das ist der dritte Blick – den Blick für das Ganze. Das Konzil erinnert uns daran, dass die Kirche nach dem Bild der Dreifaltigkeit Gemeinschaft ist (vgl. Lumen gentium, 4.13). Der Teufel hingegen will das Unkraut der Spaltung säen. Erliegen wir nicht seinen Täuschungen, erliegen wir nicht der Versuchung der Polarisierung.
Wie oft haben sich Christen nach dem Konzil für eine Seite in der Kirche entschieden, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit das Herz ihrer Mutter zerreißen! Wie oft wollte man lieber ein "Anhänger der eigenen Gruppierung" als ein Diener aller sein, Progressive und Konservative statt Brüder und Schwestern, "der Rechten" oder "der Linken" statt Jesus zugehörig; sie haben sich als "Hüter der Wahrheit" oder "Solisten des Neuen" aufgespielt, statt sich als demütige und dankbare Kinder der Heiligen Mutter Kirche zu sehen. (...) Der Herr will uns nicht so haben: Wir sind seine Schafe, seine Herde, und wir sind das nur gemeinsam, vereint. Überwinden wir die Polarisierungen und bewahren wir die Gemeinschaft, werden wir mehr und mehr "eins", wie Jesus betete, bevor er sein Leben für uns hingab (vgl. Joh 17,21). (...)
Es ist schön, dass heute, wie auch während des Konzils, Vertreter anderer christlicher Gemeinschaften unter uns sind. Vielen Dank für eure Anwesenheit! Wir danken dir, Herr, für das Geschenk des Konzils. Du, der du uns liebst, befreie uns von der Überheblichkeit der Selbstgenügsamkeit und dem Geist weltlichen Kritisierens. Du, der du uns liebevoll weidest, führe uns aus dem Gehege der Selbstbezogenheit heraus. Du, der du willst, dass wir eine geeinte Herde sind, befreie uns von der teuflischen Finesse der Polarisierungen. Und wir, deine Kirche, sagen mit Petrus und wie Petrus zu dir: "Herr, du weißt alles; du weißt, dass wir dich lieben" (vgl. Joh 21,17).