Standpunkt

Antijudaismus: In der Kirche noch immer salonfähig?

Veröffentlicht am 14.10.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die momentan begangenen jüdische Feiertage geben Anlass, genauer hinzuschauen: Wie wird in der Kirche über das Judentum gesprochen? In vielen Gemeinden sei unbewusster Antijudaismus noch immer Teil der Alltagsrealität, kommentiert Valerie Mitwali.

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Wir befinden uns mitten in der jüdischen Feiertagssaison: Letzten Monat fand das Neujahrsfest Rosch Haschana statt, diesen Monat folgte der höchste Feiertag Jom Kippur und momentan wird das Laubhüttenfest begangen. In den meisten Pfarreien wird das keine Rolle gespielt haben.

Stattdessen durchzieht etwas anderes noch immer viel zu viele Predigten, Bibelkreise und Co.: Antijudaismus. Vielleicht möchten Sie bereits an dieser Stelle den Standpunkt empört wegklicken: Wir doch nicht! Bei uns geht es weder um "Rassen" noch Politik. Antijudaismus aber ist kein Synonym für Antisemitismus, sondern steht für die religiös begründete Ablehnung des Judentums. Über das komplexe Verhältnis wird gestritten. Fest steht aber: Was ich nicht benennen kann, sehe ich nicht.

Diese abgrenzende Abwertung begleitet das Christentum seit seinen Anfängen, manche sprechen gar von seiner eigentlichen Erbsünde. Auch hier geht es nicht um persönliche Schuld, sondern eine unheilvolle Struktur. Gerade in Deutschland ist vielen Katholiken der jüdisch-christliche Dialog ein Herzensanliegen. Dann aber sollten wir uns nicht damit begnügen, Luthers Zitat "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" als immunisierendes Amulett vor uns herzutragen. Es lohnt sich, genauer hinzuhören – auch wenn es weh tut.

Besonders drei antijudaistische Modelle geistern bis heute umher: Das Substitutionsmodell ersetzt (substituiert) Israel durch die Kirche. Kann das, was nicht mehr gebraucht wird, dann weg? Im Relativierungsmodell wird die jüdische Schrift zur Dienerin ohne Eigenwert, die einzig auf das Neue Testament vorbereitet. Und schließlich erhebt das Selektionsmodell das Neue Testament zum exklusiven Maßstab für das, was in der anstrengenden Vielfalt der jüdischen Schrift als göttliche Offenbarung anzuerkennen ist.

Dass es sich beim Antijudaismus keineswegs um den so unschuldigen wie irrelevanten kleinen Bruder des Antisemitismus' handelt, zeigt sich aber am deutlichsten an Jesus vor einer jüdischen Negativfolie: Gegen Gesetzeszwang bringt er Barmherzigkeit, gegen Materialismus Spiritualität, gegen Fremdenfeindlichkeit Gleichheit? Buchstabieren Sie die dahinterliegenden Laster gerne im Stillen aus – Sie werden sich in gefährlichen Wassern wiederfinden.

Die jüdischen Professoren Marc Zvi Brettler und Amy-Jill Levine sprechen von "toxischen Irrtümern". Sie belasten nicht "nur" das jüdisch-christliche Verhältnis, sondern machen uns alle geistig ärmer. Zeit für ein Umdenken.

Von Valerie Mitwali

Die Autorin

Valerie Mitwali ist Redaktionsmitarbeiterin bei katholisch.de und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum in systematischer Theologie.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.