Alte Muster der Vergangenheit leben heute bei Protesten wieder auf

Historiker: Nur Aufklärung reicht nicht gegen Hexenmythen

Veröffentlicht am 21.01.2023 um 12:09 Uhr – Lesedauer: 

Mainz/Oxford ‐ Die Hexenverfolgung ist lange vorbei – doch die Mythen um Hexen gibt es immer noch. Heute erscheinen sie in der Verschwörungsszene. Der Historiker Johannes Dillinger erklärt im katholisch.de-Interview, welche Mechanismen da am Werk sind.

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Dass in Europa angebliche Hexen verfolgt wurden, ist Jahrhunderte her. Doch manche Motive haben die Zeiten überdauert, bis hin zu Corona- oder Energieprotesten. Johannes Dillinger ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit in Oxford (Brookes) und Professor für die Geschichte der Neuzeit und Landesgeschichte an der Universität Mainz. Außerdem ist er Co-Leiter des Arbeitskreises Interdisziplinäre Hexenforschung, des weltweit größten Verbands von Fachleuten für die Geschichte des Hexenglaubens. Im Interview spricht er über die Aufarbeitung der Hexenverfolgung und deren Spuren in der Gegenwart.

Frage: Herr Dillinger, welches Erbe ist von der Hexenverfolgung heute noch spürbar?

Dillinger: Die Hexenverfolgungen hören zum allergrößten Teil in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf. Das Erbe ist aber auch heute noch überall: Es gibt die Prozessakten noch, die Darstellung der Hexen in der Kunst und im Theater. Außerdem sind Hexen immer noch im allgemeinen Bewusstsein verankert: Die Frau auf dem Besen erkennt jeder. Bis zu einem gewissen Grad kommen Hexen auch zurück ins historische Bewusstsein. In einigen Städten gibt es Denkmäler für die Opfer der Verfolgung. Die Hexen sind also eigentlich nie verschwunden. In manchen Teilen der Welt geht die Hexenverfolgung sogar noch weiter. Es gibt Lynchmorde an Hexereiverdächtigen in Afrika und Asien, es gibt in manchen Ländern dort sogar Gesetze gegen Hexerei. Auch Saudi-Arabien zum Beispiel hat Hexerei zur Straftat gemacht und Menschen deswegen hingerichtet, zuletzt im Jahr 2011.

Frage: Schauen wir auf Europa: Wie erfolgreich war hier die Aufarbeitung der Hexenverfolgung?

Dillinger: Die war spektakulär erfolgreich. 1972 begann die neue Hexenforschung. In diesen 50 Jahren haben wir unser Wissen über die Hexenverfolgung vervierfacht, die ältere Literatur hat heute keine wissenschaftliche Bedeutung mehr. Auf der Landkarte der Hexenverfolgung in Europa gibt es kaum noch weiße Flecken; wir wissen ziemlich genau, was passiert ist und wie viele Opfer es gab. Man geht für Europa und die europäischen Kolonien heute von etwa 50.000 Exekutionen aus. Das sind viel weniger als lange behauptet wurde. Große Überraschungen im Sinne von neuen Quellen sind nicht mehr zu erwarten.

Wenn ich mich mit dem Publikum etwa bei Vorträgen unterhalte, bemerke ich dagegen eine beunruhigende Rückentwicklung. Lange Zeit waren die Menschen unzutreffenderweise davon überzeugt, dass die Kirche die Hauptschuld an der Hexenverfolgung tragen würde. Dem ist nicht so, es waren staatliche Prozesse, mit denen die Kirche nichts zu tun hatte. Eigentlich hatte das die Forschung in den vergangenen Jahren geradegerückt. Das scheint jedoch wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Es gibt Menschen, die im Internet sehr aggressiv auftreten, die die Kirche da in jedem Fall schuldig sprechen wollen und dafür beispielsweise auch meine wissenschaftliche Expertise anzweifeln. Die wollen nicht lernen und sich ihre Klischees nicht wegnehmen zu lassen.

Bild: ©Privat

Der Historiker Johannes Dillinger lehrt an den Universitäten Mainz und Oxford.

Frage: Wie erklären Sie sich das?

Dillinger: Die Kirche hat anhaltend schlechte Presse. Zudem entstehen in sozialen Netzwerken schnell Filterblasen, wo der wissenschaftliche Diskurs nicht ankommt. Aber wer will, kann sich ganz leicht informieren. An Literatur mangelt es nicht. Die Geschichtswissenschaft hat einen großen Teil ihrer Bringschuld erbracht.

Frage: In der Verschwörungsszene gibt es mit QAnon die Erzählung, dass Eliten Kinder entführen, töten und deren Blut trinken, um ewig jung zu bleiben. Das erinnert doch auch stark an Geschichten von Hexen.

Dillinger: Diese spezifisch US-amerikanischen Verschwörungsmythen, die nach Europa überschwappen, leben von der Ansicht, dass sich in den USA ein politisches Führungsmilieu entwickelt hat, das viele Menschen als abgehoben empfinden. Das fängt in der Präsidentschaft von Bill Clinton an, wo es Korruptions- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn gibt. Das sind die Grundlagen für Gerüchte, die politischen Führungskreisen schwere Verbrechen unterstellen. Das läuft zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus dem Ruder und lädt sich mit deutlich älteren Motiven auf: Kindesentführung, Kindesmissbrauch und -tötung durch die politische und ökonomische Führungselite. Eines der Sprachrohre ist der Blogger "Q", dessen Identität ungeklärt und der mittlerweile verstummt ist. Beunruhigend ist, dass es schon in den ersten Nachrichten von "Q" darum ging, dass die US-Regierung von Teufelsverehrern durchsetzt ist, die Kinder töten. Das ist natürlich ein Aspekt der alten Hexengeschichten ab dem späten Mittelalter. Wenn man sich die Hexenprozesse insbesondere in Deutschland etwas näher ansieht, stellt man fest, dass die oft eine elitenfeindliche Spitze hatten. Da wurde gern der Bürgermeister, ein Ratsmitglied oder sogar der Hexenrichter selbst der Zauberei und Teufelsanbetung verdächtigt. Manchmal haben diese Prozesse fast Aufstandscharakter, da will die aufgebrachte Menge die Hexe brennen sehen – und Gnade Gott dem Fürsten, der das nicht schnell genug umsetzt. Das geht zum Teil bis zur Lynchjustiz.

Motiv "Hochzeit mit dem Teufel"
Bild: ©KNA

Hexen wurde ein Bündnis mit dem Teufel nachgesagt.

Frage: Ist das vielleicht wie beim Antisemitismus, dass sich die Leute in einer Krise jahrhundertealten Klischees zuwenden?

Dillinger: Ja und nein. Denn es gibt ja Juden, also Menschen, die sich selbst so definieren. Es gibt zur Zeit der Hexenverfolgung allerdings fast niemanden, der sich als Hexe begreift. Das ist also schon immer ein Hirngespinst. Theoretisch kann man also alles und jeden als Hexer bezeichnen. Bei Juden geht das nicht. Die Anschuldigungen sind allerdings ähnlich, denn das Hexenklischee hat einige antisemitische Klischees übernommen – nicht umsonst spricht man vom "Hexensabbat". 

Sowas wird aber nicht einfach so wiederbelebt. Es gibt schlicht Muster, die zu jeder Zeit die größtmögliche negative Aufmerksamkeit erregen. Zum Beispiel: Wer ein Kind tötet, tötet die Zukunft – das macht ihn zum schlimmsten Verbrecher überhaupt. Mit entsprechenden Konsequenzen. Diese Muster werden angewendet, wenn ein Gegner dämonisiert werden soll.

Frage: Kann man diesen Mustern mit Fakten entgegenwirken?

Dillinger: Nur mit Wissenschaft kommt man dagegen nicht an. Schon in der Frühen Neuzeit haben sich kluge Köpfe gegen die Hexenverfolgung gewandt, die wurden dann allerdings schnell selbst als Hexer verfolgt oder als dumm bezeichnet. Das geschieht auch heute noch: Politische Gegner sind entweder böse oder dumm, im Idealfall beides. Dieses gegenseitige Angiften finden sie überall im politischen Spektrum. Wissenschaftlich gesehen kann man versuchen, aufzuklären und Unentschlossene und Offene mit Fakten zu überzeugen. Die Angst vor dem Bösen und die Neigung, den Gegner zu dämonisieren, kann man nicht nur mit Fakten bekämpfen. Dafür muss sich die Gesamtwetterlage ändern: Die Hexenverfolgung bricht nicht durch die Aufklärung zusammen, sondern durch das Ende der damaligen Wirtschaftskrise. Es geht also um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Dann sehen sie auch das Böse nicht mehr so bereitwillig.

Von Christoph Paul Hartmann