Religionspädagogen: Potenzial der Messdienerarbeit wird nicht genutzt
Über 350.000 Kinder und Jugendliche sind in Deutschland als Messdienerinnen und Messdiener aktiv und bilden damit eine große und wichtige Gruppe in der kirchlichen Jugendarbeit. In einer 2020 veröffentlichten Studie haben Clauß Peter Sajak, Professor für Religionspädagogik an der Universität Münster, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Katharina Schulze Pröbsting diese Gruppe untersucht. Im katholisch.de-Interview sprechen die beiden über den religiösen Lernort Ministrantenarbeit und das Potenzial der Pastoral.
Frage: Herr Sajak, Frau Schulze Pröbsting, welche Rolle haben Messdienerinnen und Messdiener heute in der Liturgie und vielleicht auch in der Kirche allgemein?
Sajak: Der Ministrantendienst hat sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erheblich verändert. Wenn man auf die heutige Praxis des Ministrierens in Deutschland schaut, dann geht es vor allem um die Assistenz in der Eucharistiefeier, wo meistens Kinder und Jugendliche dem Priester bei den liturgischen Vollzügen zur Seite stehen und ihn unterstützen. Insofern sind sie ein wichtiger Bestandteil der Liturgie, weil durch ihre Handlung zum Ausdruck kommt, dass eben nicht nur der Priester als Zelebrant die Messfeier gestaltet, sondern die Messe ein Gemeinschaftsvollzug ist, in dem die Ministrierenden die Gemeinde repräsentieren.
Frage: In Deutschland sind es derzeit Hunderttausende vor allem junge Menschen, die als Messdienerinnen und Messdiener aktiv sind. Die Ministrantenarbeit macht einen großen Teil der kirchlichen Jugendarbeit aus. Welche Rolle spielen dabei Evangelisierung und liturgische Bildung?
Sajak: Meiner Einschätzung nach ist die Einführung in die Ausübung des Ministrierendendienstes ein ganzes Stück liturgischer Bildung. Die vollzieht sich ja dort, wo Kinder und Jugendliche auf diesen Dienst vorbereitet werden und setzt sich viel intensiver mit dem Ablauf, den Funktionen und Bedeutungen der unterschiedlichen Gottesdienstteile auseinander. Bei unserer Studie haben wir aber herausgefunden, dass das Potenzial des Ministrierendendienstes von der Kirche überhaupt nicht genutzt wird. Unsere Teilnehmenden haben artikuliert, dass sie sich sogar wünschen würden, dass in diesem Bereich mehr passiert, dass es also eine Art liturgische oder auch spirituelle Fortbildung gäbe. Das findet bis heute aber überhaupt nicht statt. Das ist scheinbar nicht im Blick, was ich persönlich sehr bedauerlich finde.
Schulze Pröbsting: Zudem haben wir in unserer Ministrierenden-Studie Gruppenleiterinnen und -leiter befragt. Auch die haben bemängelt, dass ihnen Fortbildung und Unterstützung in ihrer Tätigkeit fehlt. Zumindest im kleinen Rahmen müsste aber eigentlich in den Gruppenstunden die liturgische Bildung ansetzen. Auch hier müsste also noch einmal stärker fokussiert werden, wie man Gruppenleitungen fortbilden und ihnen bestimmte Angebote geben kann.
Frage: Was müsste man denn tun, um dieses Potenzial tatsächlich zu nutzen?
Schulze Pröbsting: Es bräuchte explizit Material für Gruppenstunden, das eben nicht nur auf Kennenlern-Spiele und gemeinschaftsbildende Aspekte abhebt – auch wenn dieser Aspekt natürlich ebenfalls wichtig ist. Aber es fehlen Materialien, um bestimmte religiöse Fragen zu erörtern und das die liturgische Bildung fokussiert. Es wäre vielleicht ein erster Anknüpfungspunkt, solche Materialien zu erstellen und an die Gruppenleitungen weiterzugeben.
Sajak: Im Bereich der Erstkommunionvorbereitung und der Firmkatechese haben wir ja bereits einen Fundus von Materialien. Dort gibt es jeweils zwei bis drei Kurse, die einfach erhältlich und katechetisch profiliert sind und daher auch flächendeckend eingesetzt werden. So etwas könnte ich mir auch für die Ministrierendenarbeit vorstellen – und zwar nicht nur mit Blick auf die Einführung in das Amt, dort gibt es bereits Materialien, sondern mit Blick auf die Fortbildung und die geistliche Begleitung. Da sehe ich noch keine grundlegenden Werke, die so klassisch verwendet werden.
Frage: Fehlen also "nur" grundlegende Unterlagen für die Ministrantenarbeit?
Schulze Pröbsting: Auch die Begleitung als solche ist sehr wichtig. Da geht es nicht um die überregionale Ebene, sondern ganz konkret um die Pfarrei vor Ort. Einige Gruppenleitungen haben kritisiert, dass ihnen Begleitung fehlt, wenn sie mit expliziten Fragen etwa nach der Zukunftsfähigkeit der Kirche oder der Missbrauchskrise konfrontiert werden. Diese Themen werfen auch bei Ministrierenden große Fragen auf, mit denen sich die Leitungen konfrontiert sehen. Das ist ein konkreter Bereich, der laut den Ministrierenden aus unserer Studie häufig fehlt.
Sajak: Ein weiteres Element, das ich beobachtet habe, sind sogenannte Ministrantentage. Dabei arbeitet meist einer der Priester beispielsweise am Wochenende gemeinsam mit den Ministrierenden der Pfarrei an Fragen der Religiosität und Spiritualität. Auch das könnte man wesentlich systematischer aufziehen, weil das ein Element ist, das sich Jugendliche laut unserer Studie durchaus wünschen. Ich bin erschüttert, dass das so wenig stattfindet. Wir reden ständig von Neuevangelisierung, wir jammern über den Traditionsabbruch, wir bedauern, dass so wenig Menschen die Eucharistiefeier noch regelmäßig besuchen – und da haben wir eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die das trotz allem tun und dann kümmert sich – überspitzt formuliert – kaum jemand um sie. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Messdiener: Gemeinschaft im Dienst am Altar
Ohne sie ist ein feierlicher Gottesdienst kaum vorstellbar. Aber nicht nur in der Liturgie haben Ministrantinnen und Ministranten eine große Bedeutung. Das ist Thema in der neuen Folge des katholisch.de-Podcasts "Aufgekreuzt".
Frage: In Ihrer Untersuchung schreiben Sie, dass junge Menschen, die Messdiener sind, zwar überdurchschnittlich oft in den Gottesdienst gehen, diesen aber nicht unbedingt als spirituellen Ort wahrnehmen. Was sagt das über das Selbstverständnis von Messdienerinnen und Messdienern aus?
Sajak: Meine persönliche Erfahrung ist ja nun auch, dass nicht jeder Gottesdienst eine spirituelle Erfahrung ist. Vielleicht sind Ministrierende also liturgisch Partizipierende mit einem wachen Bewusstsein dafür, was wirklich eine religiöse Erfahrung und ein spirituelles Ereignis ist. Ich denke, viele Gläubige haben schon die Erfahrung gemacht, dass man in Gottesdienste aus Pflichtbewusstsein oder anderen Gründen hineingeht, dann aus diesen aber nicht wirklich erbaut herausgeht. Insofern kann ich diese Aussage sehr gut nachvollziehen. Und: Nicht zuletzt in der Corona-Pandemie hat die Kirche durch geschlossene Gotteshäuser und die Aufhebung des Sonntagsgebots selbst dafür gesorgt, dass der sakramentale Charakter der Eucharistie nahezu völlig verlorengegangen ist. Was bleibt dann noch übrig? Ein Zelebrant, der Charisma hat, eine gute Predigt, eine schöne musikalische Gestaltung vielleicht. Und das ist eben oftmals nicht so.
Schulze Pröbsting: Vielleicht noch ein anderer Blick darauf: Wenn wir davon sprechen, dass Ministrierende selbst aktiv am Gottesdienst beteiligt sind und Aufgaben übernehmen, lernen sie auf diese Art und Weise die Liturgie als solche kennen und wissen, welche Gesten und Körperhaltungen sie machen, wann sie sich hinsetzen und hinknien, wie die Gabenbereitung abläuft, und vieles mehr. Daraus kann die Chance resultieren, dass daraus später, wenn man nicht mehr als Ministrantin oder Ministrant am Gottesdienst teilnimmt, sondern als gläubige Person in der Kirchenbank sitzt, ein spirituelles Ereignis entstehen kann, weil ich mich mit den Handlungen auskenne und mich mehr darauf einlassen kann. Das ist also auch eine Chance und nicht unbedingt nur negativ zu sehen, dass sie das in dem Moment nicht als spirituelles Erlebnis erleben.
Frage: Messdienerinnen und Messdiener waren in der Vergangenheit ja oft Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester. Welche Auswirkungen hat denn das auf die Messdienerarbeit und vielleicht auch auf das Verständnis dieser Gruppe?
Sajak: Angesichts der fürchterlichen Missbrauchstaten wundert man sich, dass die Bereitschaft von Kindern und Jugendlichen weiterhin so ausgeprägt ist, diesen Dienst zu übernehmen. Es ist letztendlich auch ein Vertrauensbeweis gegenüber den vielen Priestern, die teilweise auch unter Generalverdacht stehen, obwohl sie mit den Taten überhaupt nichts zu tun haben. Auch das Priesteramt ist durch die zahlreichen Missbrauchstaten beschädigt. Als praktizierender Katholik und Vater nehme ich wahr, dass Ängste den Eltern sehr stark ausgeprägt sind. Das Ministrierendenamt hat sich also aus elterlicher Sicht verändert. Ich höre nun auch schon mal den Satz: Ich möchte nicht, dass mein Kind nach der Messe allein mit einem Priester in der Sakristei ist. Und das ist natürlich eine fürchterliche Entwicklung, die verständlich ist und die zeigt, wie viel Vertrauen die Kirche mit dieser elenden Verzögerung der Missbrauchsaufklärung verspielt hat. Gleichzeitig gibt es noch zahlreiche Kinder und Jugendliche, die sich trotzdem bereiterklären, Ministrierendendienste zu übernehmen. Mit ihnen sollte man daher wertschätzend umgehen, ohne das Thema auszusparen.
Schulze Pröbsting: In unserer Untersuchung haben wir nicht nur quantitativ Ministrierende befragt, sondern es wurden auch Interviews mit Gruppenleiterinnen und -leitern geführt, in denen dieser Aspekt angesprochen wurde. Als Gruppenleitung befindet man sich grundsätzlich in der Pflicht, Missbrauchsschulungen zu besuchen. Viele der von uns befragten Ministrierenden haben dabei die Erfahrung gemacht, dass sie sich häufig in einer Rechtfertigungsposition befinden, wenn sie an solchen Schulungen teilnehmen und sich in eine bestimmte Ecke gedrängt sehen. Auch damit lernen sie nicht wirklich umzugehen.