Missbrauchsbetroffener: Schrecken umflutet mich immer und immer wieder
Eigentlich kann Norbert Thewes keine Kirche mehr betreten. Der 64-Jährige wurde als Kind von einem katholischen Pfarrer in Wolfsburg schwer sexuell missbraucht. Nun steht Thewes dennoch in seinem grauen Kapuzenpulli im Hildesheimer Mariendom und bringt all seinen Schmerz und seinen Zweifel an Gott in einem eigens von ihm verfassten Gebet zum Ausdruck: "Der Schrecken dessen, was damals an mir geschah, er umflutet mich immer und immer wieder." Menschen wie er, die von sexualisierter Gewalt im Bistum Hildesheim betroffen waren, haben am Donnerstagabend eine eigene Gedenkfeier veranstaltet.
Als Siebenjähriger musste Thewes, der aus einer schlesisch-katholischen Familie stammt, zum Pfarrer gehen, weil er ein anderes Kind mit Sand beworfen hatte. Damit begann sein jahrelanger Leidensweg, wie er erzählt. Während seine Mutter die Kirche putzte, winkte der Pfarrer den Jungen zu sich in die Sakristei, auch in seinem Schlafzimmer vergewaltigt er den Jungen. "Als Freund der Familie ging er bei uns ein und aus, daher hätte ich nie eine Chance gehabt, etwas zu sagen." Die "unkeuschen Taten" muss der Junge dem Täter in der Beichte offenbaren.
Wie viele Betroffene verdrängt Thewes lange Zeit die Erinnerungen, auch aus Angst, dass ihm niemand glaubt. Er wird sogar Pastoralreferent im Bistum Münster, denn die Kirche sei eigentlich immer wichtig für ihn gewesen. Sein Leben lang leidet er unter Migräne, hat viele Fehlzeiten. Als er 2010 einen Bericht darüber liest, wie groß die Ungläubigkeit darüber ist, dass ein Pfarrer in seiner Heimatstadt ebenfalls zum Missbrauchstäter wurde, bricht bei ihm eine Blockade. "Ich habe einen offenen Leserbrief geschrieben, dass es fatal ist, den Opfern eine Mitschuld zu geben."
"Das war für mich ein Schlag ins Gesicht"
Erinnerungen an die sexualisierten Handlungen kehren zurück, lähmen ihn Tag und Nacht, und Thewes wendet sich an das Bistum Hildesheim. Der Wolfsburger Pfarrer lebt seit den 1980er-Jahren nicht mehr. Und das Bistum glaubt nicht an einen "realen Missbrauch", denn der Pfarrer gehöre nicht zu den bekannten Tätern, erzählt Thewes nun im Dom. "Das war für mich ein Schlag ins Gesicht." Erst acht Jahre später, wendet er sich während einer Therapie an den neuen Bischof Heiner Wilmer, der ihm endlich glaubt, dass er in allerschwerster Form vergewaltigt wurde.
An diesem Abend im Mariendom werden die Belastungen, die die Betroffenen ein Leben lang begleiten, in einer symbolischen Klagemauer deutlich. Überlebensgroß sind Kartons ganz bewusst vor dem Zugang zum Grab des früheren Bischofs Heinrich Maria Janssen (1907-1988) gestapelt. Janssen war in einem Untersuchungsbericht schwer belastet worden, Missbrauchstäter gedeckt und sexualisierte Gewalt vertuscht zu haben. Worte wie "Alkoholsucht", "Glaubenszweifel" oder "Depressionen" stehen auf den einzelnen Kartons.
Für viele Betroffene seien nicht nur Krankheiten, sondern auch beschädigtes Vertrauen und Selbstwertgefühl sowie Ängste vor Nähe die Folgen, erläutert Norbert Thewes. Er selbst arbeitet heute als Seelsorger in einem Altenheim im westfälischen Dülmen und engagiert sich inzwischen im Betroffenenrat einiger norddeutscher Bistümer.
Anlass für die öffentliche Gedenkfeier ist eine Anregung von Papst Franziskus. Rund um den von der EU eingeführten "Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch" sollte ein Gedenktag für Betroffene von sexualisierter Gewalt begangen werden.
Bischof Wilmer sichtlich bewegt
Bei der Feier im Mariendom sitzt der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer ganz bewusst in einer Reihe mit den Betroffenen. Er sei da, um sich dem Thema zu stellen und zuzuhören, sagt der Theologe. Er beendet sein Schlusswort sichtlich bewegt mit einer Frage: ob ein Täter sexualisierter Gewalt, symbolisch der biblische Kain, nicht nur seinen Bruder Abel erschlagen habe, sondern auch Gott?
Auf den Stufen zum Altar brennen Kerzen, die für die mehr als 150 bislang bekannten Betroffenen im Bistum stehen. "Sie sollen aber auch ein Licht auf die Täter werfen", sagt Thewes. Denn sie stünden genau an dem Ort, an dem sie zum Priester geweiht worden seien – auch "sein Täter" sei darunter gewesen. Ein Symbol, das nur kurz währt: Für die Messfeier im Anschluss werden Kartons wieder weggeräumt und die Kerzen gelöscht.
Thewes hofft, irgendwann mit dem Thema Missbrauch seinen Frieden zu finden. "Es war ein Teil meines Lebens, das war eine ganz beschissene Erfahrung, die mir viel Leid zugefügt hat", sagt er. Gleichzeitig habe er Ressourcen gefunden, um zu überleben.