Von einer Antiphon in die Nazi-Zeit

Wie Kirchenlieder in der Krise Hoffnung und Trotz stiften können

Veröffentlicht am 08.01.2023 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 6 MINUTEN

Bonn ‐ In Zeiten der Krise fällt die Suche nach Halt oft schwer. Doch damit sind die Menschen des 21. Jahrhunderts nicht allein: Auch in alten Kirchenliedern geht es immer wieder um große und kleine Krisen – sie haben auch heutigen Lesern noch etwas zu sagen.

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Die Preise steigen, dazu Krieg in Europa und eine Bedrohung einerseits durch eine Pandemie, andererseits durch Terrorismus. Nicht ohne Grund schleicht sich manchmal der Eindruck ein, die Welt sei aus den Fugen geraten – und früher sei alles besser gewesen. Soviel am Anfang: Das war es nicht. Auch in früheren Zeiten haben Menschen unter Gewalt und Krisen gelitten – und ihre Empfindungen zu Gott getragen. Einige Kirchenlieder zeugen noch heute davon und können in der Zeit der Unsicherheit eine Inspiration sein.

Geradezu prototypisch zeigt sich das Krisenhafte beim lutherischen Pfarrer Philipp Nicolai. Er war Ende des 16. Jahrhunderts Pfarrer im westfälischen Unna – zu der Zeit wütete dort die Pest. Jeden Tag bis zu 30 Beerdigungen – in einer Stadt mit damals 2.000 Einwohnern. Die Hälfte hatte die Krankheit schon dahingerafft. Nicolai kommt von Kirchhof kaum noch herunter. Auch mehrere Familienmitglieder musste er schon beerdigen.

Inmitten dieses traumatischen Chaos setzt er sich zu Hause hin – und dichtet. Zwei Lieder aus dieser Zeit haben sich bis heute überliefert: "Wie schön leuchtet der Morgenstern" und "Wachet auf, ruft uns die Stimme". An ersterem lässt sich die erstaunliche Form ablesen, mit der Nicolai seiner Trauer begegnet.

Ein prächtiges Brautfest

"Wie schön leuchtet der Morgenstern / Voll Gnad vnd Warheit von dem HERRN", schreibt Nicolai. Er entwickelt das Bild eines prächtigen Brautfestes. "Mein König vnd mein Bräutigam / Hast mir mein Hertz besessen", heißt es schon in der ersten Strophe, später ist noch von Perlen, Kronen, der "Flamme deiner Lieb", Musik und dem Paradies die Rede. Denn der Morgenstern ist Jesus Christus und die Hochzeit mit ihm die Erlösung des Menschen am jüngsten Tag. Inmitten des Elends veranstaltet Nicolai also eine Art geist(l)ich(g)es Fest im Gedicht. Der Pest-Pfarrer beschwört zur Bewältigung der Krise also ein innerliches, von tiefer Frömmigkeit geprägtes Endzeitbild herauf.

Neben dieser poetisch ausgestalteten Vision gibt es in der christlichen Tradition sehr persönliche, schmerzgeplagte Texte. Wie die Antiphon "Illumina": "Illumina oculos meos, Domine", "Mach licht meine Augen, o Herr", heißt es dort. Es wird auch sehr konkret genannt, von welcher Dunkelheit die Augen erleuchtet werden sollen: "Wie lang noch muss ich in meiner Seele die Schmerzen tragen, in meinem Herzen die Trauer Tag für Tag?" Es ist die Rede vom "Frevler", der sich gegen die Stimme des Liedes brüstet. Am Ende bittet die Antiphon: "Möge mein Herz über deine Hilfe frohlocken."

Ein Kapitel der St. Galler "Corona-Bibel"
Bild: ©Uwe Habenicht

Psalmen beeindrucken Mneschen seit Jahrhunderten.

Die eindrückliche wie direkte Ansprache des Textes kommt nicht von ungefähr: Es ist der zwölfte Psalm, der hier gesungen wird, in den 150 Texten des Buchs der Psalmen in der Bibel, das bei Juden und Christen jeweils Teil der Bibel ist und große Bedeutung in der Liturgie hat. Die meisten Psalmen stammen aus der Zeit zwischen dem 6. und 2. vorchristlichen Jahrhundert, viele prägt eine lyrische wie dramatische Sprache, die bisweilen auch sehr drastisch sein kann. Hier wird ganz persönlich Leid geklagt und Freude gefeiert. Nicht zuletzt deswegen waren sie lange Zeit Texte, die in erster Linie der individuellen Meditation dienten. In den 150 gesammelten Texte kann sich jeder in einer Gefühlslage wiederfinden – und das haben Menschen auch in den vergangenen mehr als 2.000 Jahren immer wieder getan. Der vor langer Zeit niedergeschriebene Schmerz kann heute Trost und Hoffnung spenden – und die Gefühle Gott anvertrauen.

Überzeitlich und zeitsensibel

Dass das nicht nur mit Texten der fernen Vergangenheit funktioniert, zeigt der Text des Liedes "Der Geist des Herrn erfüllt das All" von Maria Luise Thumair. In dem Pfingstlied zählt die Autorin auf, wo der Geist Gottes überall wirkt: Berge, Täler, Wasser, aber auch "Seher und Propheten": "Der Geist des Herrn durchweht die Welt / gewaltig und unbändig; / wohin sein Feueratem fällt, / wird Gottes Reich lebendig."

Das Thema Pfingsten und der Heilige Geist sind überzeitlich – doch Thumair gewinnt beiden auch eine für ihre Zeit sehr gegenwärtige Seite ab: Der Text entstand 1941, mitten in der Nazi-Zeit. Von den ursprünglich sieben Strophen werden heute fast nur noch vier gesungen. Doch ein Blick in die anderen drei lohnt sich. "Der Geist des Herrn erfüllt die Zeit, / die Sehnsucht aller Hügel; / reißt sie aus der Verlorenheit / auf seine Sturmesflügel; / und holt sie heim ins Reich des Lichts, / dass sie verklärten Angesichts / lobsinge: Halleluja!" Hier wird ziemlich offensichtlich auf die "Heim ins Reich"-Propaganda der Nazis angespielt, der aber ein christliches Gegenbild entgegengestellt wird. Das wundert nicht: Thumair lebte in Österreich und war von der Angliederung Österreichs an Deutschland direkt persönlich betroffen: Unmittelbar danach verlor sie ihre Arbeit bei einer katholischen Zeitung in Wien. Sie nutzte das Mittel der Poesie also, um dem Grauen voller Trotz den Spiegel vorzuhalten und ihn mit den eigenen Mitteln zu schlagen.

Drei Texte, drei Zeiten, drei unterschiedliche Welten. Gemeinsam ist ihnen, dass Menschen eine Lebenssituation als krisenhaft begriffen haben – und das in lyrische Zeilen verwandeln. Diese drei Texte werden bis heute gesungen, zwei von ihnen stehen im Gotteslob. Gelegenheit genug, aus ihnen Trost, Hoffnung – und gern auch etwas Trotz zu schöpfen.

Von Christoph Paul Hartmann