"Der Geist des Herrn erfüllt das All" – Hoffnung über Pfingsten hinaus
"Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis, halleluja. Er, der das All umfasst, er weiß um jeden Laut, halleluja." – so lautet der Introitus am Pfingstsonntag. In Analogie dazu beginnt auch das Pfingstlied von Maria-Luise Thurmair aus dem Jahr 1941: "Der Geist des Herrn erfüllt das All".
Der Schatz der christlichen Kirchenmusik birgt viele Lieder, die im Kern die Bitte um den Heiligen Geist thematisieren. Diese motivisch eher traditionell gestalteten Heilig-Geist-Lieder sind zumeist durch starke Vokative ausgestaltet und erzeugen mit der wiederholten Anrufung "veni" (komm) lebhafte Affekte. Pfingstlieder, die diesen bittenden Charakter hintanstellen und in den beschreibenden Modus wechseln, sind dagegen eher selten. Mit Maria-Luise Thurmairs Text liegt ein Pfingstlied vor, welches sich vom klassischen Muster dieser Liedsorte abhebt und das Wirken des Heiligen Geistes in der Heilsgeschichte nachzeichnet.
Im Jahr 1941 wurde die gebürtige Boznerin Maria-Luise Mumelter-Thurmair, die seit 1935 geistliche Liedtexte verfasste, beauftragt für das neu geplante Innsbrucker Diözesangesangbuch ein Pfingstlied zu schreiben. Thurmair selbst verstand Kirchenmusik als Glauben schaffendes und Glauben bezeugendes Medium; das Kirchenlied war für sie religiöses Erlebnis und Ausdruck des Glaubens. Nach ihrer Auffassung soll das Kirchenlied selbst zum Gebet werden, da das religiöse Lied in einer viel intensiveren Weise den Kontakt zu Gott herstellen kann als das gesprochene Wort. Ihre Arbeit war vom Gedanken getragen, dass bestimmte Lieder und Musikstücke eine ausgeprägte religiöse Atmosphäre hervorrufen können und demnach Kirchenlieder den Glauben nicht nur zur Sprache bringen, sondern überzeitlich gültige Glaubensaussagen festigen können. So ging sie auch an die Auftragsarbeit zu "Der Geist des Herrn erfüllt das All" heran.
Das Wirken des Geistes – in Bildern von A bis Z
Im aktuellen Gotteslob von 2013 ist das Lied unter der Nummer 347 mit insgesamt vier Strophen abgedruckt, wie auch bereits im Vorgängermodell von 1975. Erstmalig wurde es im Innsbrucker Gesangbuch von 1941 abgedruckt – jedoch in zwei verschiedenen Fassungen: einmal in einer sieben Strophen umfassenden Version, vorgesehen für eine Andacht in der Pfingstzeit, und einmal in einer Fassung mit vier Strophen, angedacht als Lied für die Messfeier am Pfingstsonntag.
Um das Lied in seinen zeitgeschichtlichen und theologischen Kontext einordnen zu können, lohnt es sich, auch einmal die längere Liedfassung heranzuziehen. Die sieben Strophen scheinen zunächst wunderbar zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes zu passen. Es fällt aber sofort auf, dass sie sich thematisch davon abgrenzen: Als verknappter Abecedarius, eine alphabetische Gedichtform, beschreibt die Autorin das Wirken des Geistes in der Heilsgeschichte von A wie "All" bis Z wie "Zeit". Dabei kommt ihr Text ohne eine einzige bittende Anrufung aus – wofür die Verse mit umso lebhafteren Bildern angereichert sind.
Auf ihre eigene Art und Weise wollte Maria-Luise Thurmair den Menschen einen Zugang zum nur schwer greifbaren Pfingstereignis ermöglichen: Sie versuchte diese beinahe unbeschreibliche Erfahrung mit Hilfe ihrer gewählten Sprachbilder zu verarbeiten und die Botschaft von Pfingsten in Worte zu fassen. Die von ihr verwendeten Metaphern sind stets von biblischen Erzählungen und liturgischen Texten geprägt, denn für sie mussten die Kirchenlieder nicht nur eingängig und gut singbar, sondern als Träger des Glaubensgutes theologisch nachvollziehbar und gut begründet sein. Gleichzeitig sollten die Texte unmissverständliche Botschaften transportieren, Einseitigkeiten zurechtrücken und Unvollständiges ergänzen.
Eine klingende Zusammenfassung der Pfingstgeschichte
Die sieben Strophen umfassende Version des Liedes kann als eine klingende Zusammenfassung der Pfingstgeschichte (Apg 2,1-13) verstanden werden und ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, Glaubensinhalte in einer Art "singenden Katechese" zu vermitteln. Unmittelbar in der einleitenden Strophe werden die typischen Charakteristika "Sturm und Feuersgluten" des Heiligen Geistes vorgestellt. Von dort erstreckt sich die Verbindung zur biblischen Erzählung über das ganze Lied hinweg, wenn es beispielsweise in der zweiten Strophe heißt "der Geist des Herrn erweckt den Geist" (Apg 2,4b) oder wenn der Spott über die scheinbar betrunkenen Apostel (Apg 2,13) in der vierten Strophe wie folgt verarbeitet wird: "Der Geist des Herrn bricht brausend ein, / in die verstummten Sinne, / er strömt ins Herz wie süßen Wein / die Trunkenheit der Minne."
Gerade bei der Betrachtung der kürzeren Liedversion fällt auf, dass die verarbeiteten Themen der Chronologie des Alten und Neuen Testaments folgen. Die erste Strophe steigt mit der Schöpfungsthematik ein: Die Allmacht und Kraft des Heiligen Geistes, der über allem schwebt (Gen 1,2) – wie es auch das Gegensatzpaar "Berg und Tal" zu verstärken sucht –, setzt der Schöpfung die Krone auf und gibt ihr ihre Gestalt beziehungsweise ihr Gesicht.
Die zweite Strophe greift die Motive "Verheißung" und "Erfüllung" auf und verbindet diese Thematik mit den biblischen Prophetenfiguren. Als vermittelnde Instanzen zwischen Gott und den Menschen verheißen diese aufgrund ihrer Geistbegabung den Messias. Die Erfüllung ereignet sich in der Nacht, in der der Retter geboren wird, wie es die Engel auf den Feldern singend verkünden – sodass gilt: "die Hoffnung hebt sich wie ein Lied".
Die dritte Strophe spannt diesen großen Bogen weiter bis zu der Stunde, in der Christus erhöht am Kreuz stirbt, um die Welt zu erlösen, und schließlich als Sieger zu seinem Vater heimkehrt.
"Da schreitet Christus durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid"
In der vierten Strophe wird ein ekklesiologisches Bild gezeichnet, das eine gewaltige Botschaft in sich trägt: Christus ist Ausgangs- und Zielpunkt der Christenheit und begleitet die Menschen auf ihrem Lebensweg von der Wiege bis zum Grab. Gleichzeitig steht derselbe Christus als Wanderer durch die Zeit symbolisch dafür, die Schöpfung zu erneuern und die Ur-Zeit gegenwärtig zu setzen.
Diese Zeilen machen deutlich: Christus wirkt wie ein Spiegel der Gesellschaft und reflektiert in seiner Person die Zeichen der Zeit. Mit Blick auf ihn sind die Gläubigen zu einem Leben der Nächstenliebe angehalten, in dem sie zu allen Zeiten Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen als eigene Angelegenheit begreifen. Andererseits kann durch und mit Christus die Zeit immer wieder "auf Anfang" gesetzt werden – oder wie der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig einmal schrieb: "Der Christ ist der ewige Anfänger; das Vollenden ist nicht seine Sache. Anfang gut, alles gut!"
Wenn Christus "durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid" schreitet, bedeutet das, dass die Menschen durch Christus immer wieder die Chance bekommen alles auf Anfang zu setzen und immer wieder neu beginnen können.
Ein geisterfülltes Gegenprogramm zur Nazi-Herrschaft
Die Entstehung von Thurmairs gesungener Pfingstgeschichte fällt mitten in die Schreckensjahre des Zweiten Weltkriegs. Im Jahr 1941 war die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten an ihrem Höhepunkt angelangt, wodurch es immer gefährlicher wurde, den persönlichen Glauben ausleben zu können. Lieder waren ein Hilfsmittel dafür, um unauffällig und trotzdem wirkungsvoll den Glauben zum Ausdruck zu bringen, weswegen gerade in dieser Zeit viele Protestlieder gegen die immer größer werdende Gefahr der Nazi-Ideologie aufkamen.
Der zunächst sehr bedacht wirkende Liedtext von "Der Geist des Herrn", augenscheinlich geschaffen für ein Hochfest im Kirchenjahr, und mit bekannten und auffälligen Formulierungen versehen, gewinnt eine andere Perspektive und enthüllt seine wahre Botschaft, betrachtet man ihn einmal etwas genauer vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund: Zum Vorschein tritt ein geisterfülltes Gegenprogramm gegen den Un-Geist der Zeit. Thurmair übt Kritik an den falschen Wahrheiten, die von der Ideologie der Naziherrschaft ausgehen und versucht gleichzeitig den wahren Glauben zu verkünden.
Das Aufgreifen der nationalsozialistischen Parole "heim ins Reich" im Vers "Der Geist des Herrn … holt sie heim ins Reich des Lichts" legt die Vermutung nahe, dass sich die Autorin mit ihrem neuen Liedtext gegen den NS-Staat aussprechen wollte. Thurmair selbst hatte diesen Zusammenhang jedoch als Zufall beschrieben, wie in dem gut informierten Liedkommentar von Andrea Ackermann und Hermann Kurzke im Sammelband "Die Liedes des Gotteslob" nachzulesen ist. Auch die Melodie habe die Dichterin lediglich gewählt, weil sie ihr gefallen habe, heißt es dort.
Dabei war die Melodie durchaus kein unbeschriebenes Blatt: Die Komposition von Melchior Vulpius aus dem Jahr 1609 stand seit der Sammlung "Kirchenlied" von 1938 mit dem Text "Zieh an die Macht, du Arm des Herrn" in Verbindung. Die darin enthaltene Liedzeile "Fort schreiten wir in deiner Hut und wiederstehen bis aufs Blut und wollen dir nur trauen" sei von den NS-Behörden als regimefeindlich verstanden und deshalb zensiert worden, erklären Ackermann/Kurzke und schließen daraus: "Ob beabsichtigt oder nicht – für Tirol-Vorarlberger Katholiken der frühen 194oer-Jahre konnte beim Hören oder Singen der Melodie das 'verbotene' Zieh an die Macht sozusagen im Hintergrund mitklingen; das Singen dieser Weise war 1941 offen für eine Deutung als melodischer Protest."
"Die Hoffnung hebt sich wie ein Lied"
In einer Zeit, in der das Leben von Millionen von Menschen ausgelöscht wird, in welcher der Krieg ganze Städte unter Schutt und Asche begräbt und in der Not, Leid, Krankheit und Tod auf der Tagesordnung stehen, gibt es etwas, wonach sich die Menschen täglich sehnen: Hoffnung. Diese Hoffnung wird in Thurmairs Lied zu einem zentralen Thema und in vielen Facetten besungen: Hoffnung auf "Heil in tiefsten Nöten", Hoffnung darauf, "die Erde zu erlösen", Hoffnung auf "Gottes Reich", das den ersehnten Frieden in Aussicht stellt.
Die Liedzeilen wirken vor diesem Hintergrund wie gesungene Fürbitten, wobei die Autorin jene trösten möchte, die unter dem Krieg leiden ("alle Herzgebeugten") oder jene, die bereits mit ihrem Leben bezahlt haben ("die sich in Demut neigten"). Für sie bittet das singende Volk um Frieden und Gnade ("friedenvolles Innesein, gnadenvolles Benedei'n") sowie Geborgenheit ("aus der Verlorenheit") und schlussendlich die Heimholung "ins Reich des Lichts".
Auch wenn das Pfingstlied in den Jahren des Zweiten Weltkriegs entstand, behält der Text auch überzeitlich seine Gültigkeit, gibt es doch auch heute noch viel Un-Geist, falsche Wahrheiten und Ideologien und damit verbundene Gewaltherrschaften, die es zu überwinden gilt – im Hoffnung stiftenden Glauben an den Heiligen Geist.
Die Autorin
Die Musikwissenschaftlerin und Theologin Theresa Seitz (*1995) promoviert derzeit an der Universität Tübingen im Fach Liturgiewissenschaft. Sie ist nebenberufliche Kirchenmusikerin und freie Mitarbeiterin im Referat Kirchenmusik der Diözese Passau.
Literaturempfehlung
Ansgar Franz/Hermann Kurzke/Christiane Schäfer (Hg.): "Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur", Katholisches Bibelwerk (Suttgart 2017), 1314 Seiten, 79,95 Euro.
Der Band erläutert die Entstehungsgeschichte, den zeitlichen Kontext und den Wandel von Text und Melodie sämtlicher Lieder des Stammteils im neuen Gotteslob sowie von 20 weiteren Liedern des Kölner Eigenteils.
GL 347: Der Geist des Herrn erfüllt das All
Der Geist des Herrn erfüllt das All
mit Sturm und Feuersgluten;
er krönt mit Jubel Berg und Tal,
er lässt die Wasser fluten.
Ganz überströmt von Glanz und Licht,
erhebt die Schöpfung ihr Gesicht,
frohlockend: Halleluja.
Der Geist des Herrn erweckt den Geist
in Sehern und Propheten,
der das Erbarmen Gottes weist
und Heil in tiefsten Nöten.
Seht, aus der Nacht Verheißung blüht;
die Hoffnung hebt sich wie ein Lied
und jubelt: Halleluja.
Der Geist des Herrn treibt Gottes Sohn,
die Erde zu erlösen;
er stirbt, erhöht am Kreuzesthron,
und bricht die Macht des Bösen.
Als Sieger fährt er jauchzend heim
und ruft den Geist, dass jeder Keim
aufbreche: Halleluja.
[Der Geist des Herrn bricht brausend ein,
in die verstummten Sinne,
er strömt ins Herz wie süßen Wein
die Trunkenheit der Minne.
Und wie ein Sturmwind singt das Wort
von Gottes Herrlichkeit sich fort,
aufjauchzend: Halleluja!]
Der Geist des Herrn durchweht die Welt
gewaltig und unbändig;
wohin sein Feueratem fällt,
wird Gottes Reich lebendig.
Da schreitet Christus durch die Zeit
in seiner Kirche Pilgerkleid,
Gott lobend: Halleluja.
[Der Geist des Herrn fällt wie ein Tau
auf alle Herzgebeugten,
und füllt mit Trost und selger Schau,
die sich in Demut neigten.
O friedensvolles Innesein,
o gnadenvolles Benedei'n,
o lichtes Halleluja!
Der Geist des Herrn erfüllt die Zeit,
die Sehnsucht aller Hügel;
reißt sie aus der Verlorenheit
auf seine Sturmesflügel;
und holt sie heim ins Reich des Lichts,
dass sie verklärten Angesichts
lobsinge: Halleluja!]
Text: Maria-Luise Thurmair (1941)
Melodie: Melchior Vulpius (1609)
Die [eingeklammerten Strophen] sind im Gotteslob nicht abgedruckt.