Wie sich das theologische Konzept entwickelt hat

Wirkmächtig und umstritten: Die Lehre von der Erbsünde

Veröffentlicht am 31.12.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Manche Theologen wollen sie abschaffen, andere wollen sie retten: Die Lehre von der Erbsünde besagt, dass jeder Mensch in einen universalen Unheilszustand hineingeboren wird und daher erlösungsbedürftig ist. Ein Blick in die Entwicklung eines wirkmächtigen Konzepts.

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Hin und wieder flammt die Diskussion auf – zuletzt etwa durch den früheren Dogmatikprofessor Hermann Häring. Aber ansonsten ist es in der Theologie ziemlich still geworden um die Erbsünde. Dabei handelt es sich um eine Lehre mit großer Wirkmacht. Denn ihre Grundaussage lautet: Jeder Mensch wird in einen universalen Unheilszustand hineingeboren. Dieser wurde von der Menschheit im Ursprung ihrer Geschichte selbst in Freiheit hervorgerufen – Stichwort Adam, Eva, die Schlange und der Baum im Garten Eden. Davon wird das Dasein des Menschen vor jeder personalen Freiheitsentscheidung bestimmt. Aus der Erbsünde ergibt sich gemäß der Lehre der Kirche die Notwendigkeit der Erlösung des Menschen, die durch die Menschwerdung, den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi verwirklicht wurde. Von der Erbsünde befreit wird man daher durch die Taufe und den Glauben an Christus.

Das Konzept ist nicht nur deshalb so bedeutungsvoll, weil es die Frage nach dem "Warum" der Erlösung behandelt. Mit der Erbsündenthematik verbindet sich auch das Thema Freiheit. Denn wie frei ist die Freiheit des sündigen, erlösungsbedürftigen Menschen? Daher scheiden sich an der Erbsünde in der Welt der Theologen seit Langem die Geister. Manche, wie etwa Hermann Häring, fordern vehement ihre Abschaffung. Einige Theologen befürworten einen Abschied von dieser Lehre deshalb, weil sie die Heilsbedürftigkeit des Menschen auch ohne dieses Konstrukt für erklärbar halten. Andere wiederum betonen, dass die Erbsünde die Wirklichkeit des radikalen Bösen im menschlichen Dasein zum Ausdruck bringe und deshalb an ihr festgehalten werden müsse – auch wenn sie einer Reformulierung bedürfe, um plausibel zu bleiben.

Missverständlicher Begriff

Für Missverständnisse sorgt allein schon der Begriff "Erbsünde". Denn eine Sünde ist dem klassischen Verständnis nach eine im Glauben gedeutete zurechenbare Schuld eines einzelnen. Wie soll man eine solche vererben können? Daher sprechen viele Theologen statt der "Erbsünde" lieber von der "Ursünde“ – so wie es auch im Lateinischen "peccatum orginale" oder im Englischen "original sin“ heißt, was beides "ursprüngliche Sünde" bedeutet.

Theologe Häring: Lehre von der Erbsünde überwinden

Der Erbsündenglaube habe zu einer allgemeinen Freiheits- und Weltangst geführt und im Katholizismus massiven Klerikalismus begünstigt: Der Theologe Hermann Häring hat sich dafür ausgesprochen, die Lehre von der Erbsünde zu überwinden.

Alles beginnt beim sogenannten Sündenfall im Garten Eden, der im dritten Kapitel des Buchs Genesis beschrieben wird. Hierbei handelt es sich um eine ätiologische Geschichte: Es wird eine Kausalität an den Anfang gesetzt, um die Endlichkeit, Begrenztheit und – auch moralische – Hinfälligkeit des Menschen zu betonen. Die klassische Theologie ging davon aus, dass der "erste Mensch", also Adam mit Eva, indem er trotz Gottes Verbot vom Baum der Erkenntnis aß, eine persönliche Sünde beging – die Ursünde (lateinisch "peccatum originale originans"), deren Unheilsfolgen auf die Menschheit übergingen ("peccatum originale originatum"). In der biblischen Weisheitsliteratur wird dieser "Sündenfall" als Einbruch der Sünde in die Menschheitsgeschichte gedeutet, der den Tod der Menschen zur Folge gehabt habe

Diese Deutung hat großen Einfluss auf Paulus. Sein Rückgriff im Römerbrief auf den mythologischen "Adam", dessen Ungehorsam und die Folgen dient als der klassische biblische Beleg für die kirchliche Lehre von der Erbsünde. Doch eigentlich lehrt Paulus keine Erbsünde, vielmehr führt er den Tod auf die zurechenbaren persönlichen Sünden aller zurück: Die Menschen sind dem Tod verfallen, "weil alle gesündigt haben". Die lateinische Bibelübersetzung gab dieses "weil" nicht mit "quia", sondern fälschlich mit "in quo" ("in welchem", nämlich "in Adam") wieder, so dass die spätere Erbsündentheologie alle Menschen eingeschlossen und von Adams Sünde mitbetroffen annehmen konnte.

Kindertaufe als Beleg?

Erste Ansätze zur Ausformulierung einer Erbsündentheologie gibt es im dritten Jahrhundert: Augustinus macht sich Gedanken, warum Kinder getauft werden – und kommt zu dem Schluss, dass es  "etwas" in den Kindern geben müsse, was der Vergebung bedürfe. Die eigentliche Erbsündentheorie entstand schließlich in der Auseinandersetzung des Augustinus mit dem Pelagianismus. Diese Lehre geht zurück auf den spätantiken Mönch Pelagius und besagt, dass die menschliche Natur nicht verdorben sei, sondern als von Gott geschaffen gut sein müsse, wenn man nicht unterstellen wolle, ein Teil der Schöpfung Gottes sei böse. Im Kern lehrt die nach ihrem Begründer Pelagius benannte Doktrin also, es sei grundsätzlich möglich, ohne Sünde zu sein. Zugespitzt handelt es sich um eine Lehre der Selbsterlösungsmöglichkeit und -fähigkeit des Menschen.

Unter Rückgriff auf den Römerbrief des heiligen Paulus führt Augustinus aus, dass die Schuld Adams auf die ganze von ihm abstammende Menschheit übergegangen sei, so dass sie bis auf ganz wenige Gerettete auf ewig verdammt werden würde. Die Weitergabe geschehe durch die sexuelle Begierde. Die Straffolgen der Erbsünde seien neben der Höllenstrafe die Begierde, der Verlust der Freiheit, gut zu handeln, intellektuelle Defekte und der leibliche Tod aller Menschen. Die Existenz der Erbsünde und der Tod als ihre Folge wurden von der Synode von Karthago 418, die auf Betreiben des Augustinus den Pelagianismus verurteilte, als kirchliche Glaubenslehre bezeichnet.

Ein Fresko zeigt den Kirchenlehrer Augustinus
Bild: ©adobestock/Renáta Sedmáková

Augustinus war der erste, der eine Erbsündenlehre ausformulierte.

Entscheidend für die Weiterentwicklung des Erbsündenkonzepts ist im Mittelalter Anselm von Canterbury mit seiner Satisfaktionslehre. In seinem Werk "Cur Deus Homo" (Warum Gott Mensch wurde) führt Anselm aus, dass Gott notwendigerweise Mensch werden musste, um die Erbsünde durch eine angemessene Gegenleistung wieder aufzuheben. Diese angemessene Gegenleistung erbringe Jesus Christus als sündeloser "Gottmensch" durch seinen Tod am Kreuz; der Mensch könne diese Genugtuung aufgrund seines gefallenen Status unmöglich selbst erbringen.

Zur definitiven Lehre wurde die Erbsünde durch das Konzil von Trient erklärt. Entscheidend für diesen Schritt war nicht nur die Auseinandersetzung mit der Reformation, da Martin Luther das Wesen der Erbsünde in der Begierde gesehen hatte, sondern auch, weil man in der zeitgenössischen Theologie pelagianische Tendenzen vermutete. Diese Theologie des Trienter Konzils bewegt sich im Rahmen der antiken Vorstellungswelt: dass "Adam" durch seine Sünde für sich und alle Nachkommen Heiligkeit und Gerechtigkeit verloren habe; dass diese Sünde allen Menschen zu eigen sei, auch den Kleinkindern; dass sie durch Fortpflanzung ("propagatione"), nicht durch Nachahmung übertragen werde; dass die Schuld der Erbsünde durch die Taufe getilgt, aber die Begierde, die zur Sünde geneigt macht und selber keine Sünde sei, nicht hinweggenommen werde. Der Mensch ist also mit der Erbsünde affiziert, ohne komplett verdorben zu sein.

Anfragen durch Aufklärung

Durch zwei Faktoren wurde die Lehre von der Erbsünde in der Folge jedoch in Frage gestellt. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten, dass der Tod nicht durch den Sündenfall in die Geschichte kam, sondern allem Lebendigen genetisch einprogrammiert ist, und dass die Entwicklung der Menschheit in verschiedenen Regionen der Erde in Populationen, nicht in einem Paar, erfolgte. Zudem wurde im Gefolge der Aufklärung eine Kollektivhaftung für eine fremde Schuld abgelehnt und auf die Unverhältnismäßigkeit der Strafe hingewiesen, die unweigerlich eine Deformierung der Gottesvorstellungen zur Folge habe.

Noch bedeutender ist jedoch der Aspekt der Freiheit: Diese wurde seit der Aufklärung zum entscheidenden Thema. Wird nämlich die Autonomie des Einzelnen betont und eingefordert, erscheint die Behauptung, er sei durch eine Erbschuld belastet, die jenseits des eigenen Verantwortungsbereichs liegt, wenig einsichtig. So beschäftigt sich etwa Immanuel Kant mit dem Thema Erbsünde. Er nimmt zwar einen Hang zum Bösen im Menschen an, legt dessen Ursprung aber in das Selbstverhältnis des Menschen. Kant will explizit den Vernunftursprung des Bösen rekonstruieren und versteht damit das "peccatum originale" als die innere Möglichkeit, dass alle Menschen Sünder sind. Der Mensch ist von seinem Ursprung aus mit dem Bösen affiziert – und doch ist es die ureigene Tat, denn er könnte auch anders.

Briefmarke der Deutschen Bundespost mit dem Konterfei Immanuel Kants
Bild: ©NobbiP/Public domain

Gerade im Zuge der Aufklärung wurde das Konzept der Erbsünde massiv hinterfragt. Auch Immanuel Kant beschäftigte sich mit ihr.

So hat es die traditionelle Lehre von der Erbsünde im Kontext des modernen Freiheitsverständnisses und -bewusstseins zunehmend schwer. Dennoch gab und gibt es immer wieder Ansätze einer Reformulierung, die überholte Vorstellungen oder die personale Implikation des Begriffes Sünde aufheben, zugleich aber die unfreie Situiertheit und bleibende Verführbarkeit des Menschen zum Bösen, aber auch seine Erlösungsbedürftigkeit betonen.

Manche Theologen, ganz prominent der 2015 verstorbene Thomas Pröpper, betonen dazu, dass der Weg zu Gott nicht über die Erbsünde, sondern über die Freiheit führt. Für Pröpper ist die Erbsündentheorie nicht nötig, um die Universalität der Erlösung durch Christus als notwendig auszuweisen. Die Inkarnation des Wortes Gottes ist demnach nicht als Folge der Sünde, sondern als innere Dynamik der Schöpfung zu verstehen. Der Mensch bedürfe nicht erst als Sünder, sondern schon aufgrund seiner geschöpflichen Freiheit und nicht erst wegen ihrer Selbstverfehlung und Sünde der Gnade Gottes. Bereits damit sei die Heilsbedeutung Jesu Christi einschließlich seines Todes gerade in ihrer Universalität und Unbedingtheit hinreichend theologisch vergewissert.

Freiheit gehe aber immer aus Befreiung hervor – gesellschaftlich wie individuell, betont der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping, der die Lehre von der Erbsünde grundsätzlich verteidigt. Im katholisch.de-Interview betonte er zuletzt, er sehe "weder anthropologisch noch theologisch überzeugende Gründe dafür, von einer Freiheit auszugehen, die in ihrem Innersten von der Sünde nicht affiziert ist". Die Lehre von der Erb- beziehungsweise Ursünde erinnere daran, dass die wahre Freiheit in der Gnade Gottes gründe. Die Frage, wie frei die Freiheit des Menschen ist, bleibt somit umstritten. Und so wird die Debatte um die Erbsünde vermutlich weiterhin hin und wieder aufflammen.

Von Matthias Altmann