Wer gegen wen - und warum?
Die ISIS-Kämpfer geben vor, sich für die sunnitische Minderheit des Irak einzusetzen, die sich von der schiitischen Mehrheit – und der schiitisch geprägten Regierung – unterdrückt fühlt. Ihr Ziel ist es, einen islamischen Gottesstaat zu errichten. Der katholische Weltkirche-Bischof Ludwig Schick gibt sich zwar überzeugt, dass die ISIS einen politischen, keinen religiösen Kampf kämpfe, dennoch spielt der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten eine wichtige Rolle in diesem Bürgerkrieg.
Der Konflikt zwischen den beiden Glaubensrichtungen reicht bis ins siebte Jahrhundert zurück. Nach dem Tod des Propheten Mohammeds im Jahr 632 stritten sich seine Anhänger um dessen Nachfolge. Eine Gruppe bevorzugte ein dynastisches Prinzip und wollte Mohammeds Neffen und Schwiegersohn Ali ibn Abi Talib zu ihrem Anführer erheben. Die Parteigänger Alis – daher auch der Name Schiiten, denn "Shi'at'Ali" bedeutet "die Partei des Ali" - fühlten sich im Recht, da Mohammed seine Nachfolge im Koran geregelt habe. Eine entsprechende Passage sei jedoch von den Gegnern der Dynastie getilgt worden.
Dies bestritten die Sunniten vehement und wollten den Nachfolger Mohammeds von dem Rat der Gläubigen, der sogenannten Shura, wählen lassen. Problematisch war damals schon, dass Mohammeds Nachfolger nicht nur Anführer in geistlichen Fragen war, sondern als Kalif auch über die eroberten Gebiete herrschte. Es ging also nicht nur um theologische Spitzfindigkeiten sondern um handfeste machtpolitische Interessen. Ali gelang es nicht, seinen Führungsanspruch dauerhaft durchsetzen.
Nur geringe theologische Unterschiede
Zwar konnte er sich knapp 30 Jahre nach Mohammeds Tod kurzzeitig zum vierten Kalifen aufschwingen, er blieb jedoch nur fünf Jahre an der Macht. Und spätestens mit der Schlacht von Kerbela 680, in der Sunniten und Schiiten um die Vorherrschaft in dem wachsenden islamischen Reich kämpften, waren auch die letzten direkten Nachkommen Mohammeds ausgelöscht. Im Nachhinein haben die Schiiten die Schlacht um Kerbela zum "großen Kampf zwischen Gut und Böse" stilisiert, dem sie bis heute Jahr für Jahr gedenken.
Noch heute halten Schiiten die ersten drei Kalifen nach Mohammed für unrechtmäßige Herrscher. Sie glauben an "den verborgenen Imam" - eine Art Über-Imam, der im Hintergrund ihre Geschicke lenkt, der "am Ende aller Tage" die Bühne betritt und der Menschheit die wahre Bedeutung des Korans offenbart. Der sogenannte "Mahdi" - also der "Rechtgeleitete" - wird die "falschen Propheten" abstrafen und ein Reich des Friedens errichten. Daraus eine Analogie zum Christentum abzuleiten wäre jedoch zu viel des Guten. Laut der Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher sehen Schiiten in Jesus höchstens eine Parallele zu den "Märtyrern" in der Schlacht von Kerbela; Jesus als Gottessohn lehnen sie jedoch grundsätzlich ab.
Sieht man mal vom Nachfolgestreit ab, ist der theologische Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten nicht allzu groß. Schirrmacher spricht von der gehobenen Stellung des Imam als unfehlbare Lehrinstitution. Ansonsten handele es sich vorwiegend um Details im Rechtssystem der Schiiten, die vielen Sunniten befremdlich erscheinen: So ist Schiiten zum Beispiel die sogenannte "Zeit-" oder "Genussehe" erlaubt - also eine zeitlich begrenzte Ehe, in deren Rahmen die Frau entlohnt wird. Auch der Märtyrer-Kult um den letzten Nachfolger Mohammeds, der in der Schlacht von Kerbela gefallen ist, wirke auf viele Sunniten bizarr: Einmal im Jahr ziehen Schiiten im Gedenken an al-Husein nach Kerbela und fügen sich mit Schwertern und Ketten Wunden zu, um den Schmerz "ihres Anführers" nachzuempfinden.
Unversöhnliche Gegensätze
Sunniten sind mit mit Abstand die größte Strömung innnerhalb des Islam. Schiiten machen nur etwa 15 Prozent der Muslime aus; Iim Irak und dessen Nachbarland Iran stellen sie jedoch die Mehrheit. Im politischen Alltag stehen sich die beiden Glaubensrichtungen oft unversöhnlich gegenüber, dabei spielen historische Vorbehalte und nationale Gegensätze im Grunde die zentrale Rolle - die Konflikte werden jedoch häufig auf die religiöse Ebene projiziert.
So auch im Irak. Beobachter der internationalen Gemeinschaft sind sich einig, dass der schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki seine Glaubensbrüder zu Lasten der sunnitischen Bevölkerung übervorteilt hat. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet, dass Maliki sämtliche Koalitionsvereinbarungen gebrochen habe, die ihm vor drei Jahren die Wiederwahl ermöglichten. Er habe den letztes Rest des irakischen Rechtsstaats ausgehöhlt, indem er die Sicherheitskräfte und die Justiz weitgehend unter seine persönliche Kontrolle brachte. Auch in Sachen Wirtschaftswachstum und Infrastruktur habe er weitgehend für seine Klientel gearbeitet.
Derweil verschlechterte sich die Sicherheitslage im Land seit Januar 2014 rapide. Die Terrorgruppe ISIS ist dort stark, wo die Bevölkerung gespalten und sunnitische Muslime in der Mehrheit sind. Dabei nutzen sie die Frustration und die fehlenden Perspektiven vieler Iraker, um Kämpfer für die eigene Sache zu rekrutieren. Und so ist der aktuelle Bürgerkrieg im Irak nur vordergründig ein Religionskonflikt. Denn hinter der religiösen Fassade geht es der ISIS um den Zugriff auf Ressourcen und politischen Einfluss. (mit Material von KNA und dpa)
Von Michael Richmann