Jede Berufung ein Ausnahmefall: So werden Priester heute ausgebildet
Über die Priesterausbildung gibt es viele Klischees: Weltfremde Seminare, in denen junge Männer unter sich sind, voll versorgt und streng überwacht. In Wirklichkeit ist Priesterausbildung heute aber ganz anders, sagt der Fuldaer Regens Dirk Gärtner – und sie müsse sich weiter ändern und auf eine Vielfalt von Lebenswegen Rücksicht nehmen, die Kandidaten ins Priesterseminar führen. Im Interview mit katholisch.de erläutert der Vorsitzende der Regentenkonferenz, wie heute Menschen zum Priester ausgebildet werden – und was sich ändern muss.
Frage: Herr Gärtner, die Priesterseminare sind leer. Fehlt es an Berufungen, oder liegt es an der Berufungspastoral und der Priesterausbildung?
Gärtner: Ich glaube, dass es auch heute ausreichend viele Berufungen gibt. Die Frage ist, ob wir sie tatsächlich alle entdecken. Dass die Priesterseminare leer sind, hat also wohl andere Gründe.
Frage: Nämlich?
Gärtner: Vielleicht traut man der Priesterausbildung in ihrer klassischen Form nicht unbedingt mehr zu, auch wirklich berufungsfördernd zu sein. Viele haben noch die alten Bilder eines kasernenartigen Hauses mit starrem Curriculum und klaren Vorgaben im Kopf. Da ist es kein Wunder, dass die Priesterausbildung nicht besonders anziehend wirkt. Das hätte ich selbst auch nicht gewollt.
Frage: Wie wollen Sie junge Männer für die Ausbildung gewinnen?
Gärtner: Ich hoffe, dass die Ergebnisse für sich sprechen: Wenn Priester geweiht werden, von denen das Volk Gottes sagen kann: "Ja, das sind Menschen, mit denen man arbeiten kann, zugleich weltgewandt und auf Gott hin ausgerichtet", dann sind das die Vorbilder, die junge Männer brauchen, um selbst ihre Berufung zu prüfen.
Frage: Wenn der erste Eindruck so gelingt, kann es passieren, dass der zweite Eindruck schon wieder abschreckend ist: Schon architektonisch wirken die immer noch genutzten Priesterseminare oft wie Burgen.
Gärtner: Räume wirken, das stimmt. Viele unserer Ausbildungshäuser sind in historischen Gebäuden aus einer Zeit untergebracht, in der die Priesterausbildung tatsächlich viel stärker reglementiert war: Vollversorgung und Status im Tausch gegen Sozialkontrolle. Dieses Bild hält sich hartnäckig, auch wenn es schon lange nicht mehr so ist. Die Sprache tut dazu auch ihr Übriges, wenn man davon spricht, ins Seminar einzutreten. Deshalb spreche ich lieber davon, dass wir Priester ausbilden.
Frage: Und wie ist die Priesterausbildung heute wirklich? Was erwartet einen jungen Mann, der sich für diesen Weg entscheidet?
Gärtner: Wir versuchen den Kandidaten deutlich zu machen, dass sie einen komplexen Ausbildungsgang vor sich haben, der sie selbst als Subjekt der Ausbildung ins Zentrum stellt. Niemand wird in ein vorgefertigtes Korsett gezwängt, im Gegenteil: Wir konzipieren die Ausbildung vom Kandidaten her, von seinen Fähigkeiten und Vorerfahrungen her. Das ist auch der Anspruch der neuen Ausbildungsordnung, die Papst Franziskus erlassen hat.
Frage: Das war vor gut fünf Jahren. Wie steht es um die Umsetzung in Deutschland?
Gärtner: Der Entwurf ist schon relativ weit gediehen. Wir rechnen damit, dass er in diesem Jahr so weit fertig wird, dass wir ihn nach Rom geben können. Wir sind aber jetzt schon gut im Gespräch mit dem Vatikan und bekommen kritisches und gutes Feedback. Ich rechne also damit, dass es sich nicht mehr allzu lange hinziehen wird und die Bischofskonferenz vielleicht schon Ende des Jahres über den fertigen Text beraten kann.
Frage: Was soll sich ändern?
Gärtner: Es soll wesentlich mehr fluide Formen der Priesterausbildung geben. Es gibt weiterhin ein Grundgerüst, aber nicht in der Form, dass jeder alles gleich durchläuft. Je nach Persönlichkeit sind manche Ausbildungsabschnitte wichtiger als andere. Schon heute gleicht kein Weg in der Priesterausbildung dem anderen. Was früher der Normalfall war, also nach katholischer Sozialisation und Schule direkt ins Seminar zu wechseln, ist heute ein Ausnahmefall. Wer sich entschließt, Priester zu werden, hat heute in der Regel schon viel mehr Lebenserfahrung: Sei es eine Ausbildung, ein Studium, Berufserfahrung, seien es Lebenskrisen und Schicksalsschläge. Auf diese Vielfalt der neuen Normalfälle muss sich eine neue Ausbildungsordnung einstellen.
Frage: Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie auf die neu ausgearbeitete Ausbildungsordnung schauen?
Gärtner: Berufung ist nichts, was irgendwann fertig wäre. Berufung ist ein Wachstumsgeschehen mit Fortschritten, aber oft auch mit Rückschlägen. Lernen, damit umzugehen, auch mit der eigenen Verletzlichkeit, ist ein zentraler Aspekt einer guten Priesterausbildung.
Frage: Der Plan einer Reduzierung der Standorte der Priesterausbildung scheint wieder ins Stocken geraten zu sein. Ist das dann ohnehin obsolet, wenn die Wege zu vielfältig und individuell sind?
Gärtner: Der Prozess hat auch weiterhin zwei Ziele: Das eine ist eine Konzentration der Seminaristen an weniger Standorten. Das wurde medial am meisten wahrgenommen. Das ist aber kein Selbstzweck, es geht darum, die Chancen von größeren Lerngruppen und den Dynamiken, die daraus entstehen, zu nutzen.
Frage: Also doch wieder Absonderung? Dynamische Lerngruppen kann es doch auch zusammen mit den Studierenden für andere pastorale Berufe geben. Schließlich werden die meisten Priester später auch eher in multiprofessionellen Teams arbeiten als in reinen Priesterteams.
Gärtner: Schon jetzt sind die allermeisten Ausbildungsgänge für Priester kooperativ gestaltet. Nur was wirklich spezifisch für das Priestertum wichtig ist, machen wir auch in eigenen Einheiten. Dafür ist es sinnvoll, wenn Priesterkandidaten nicht nur vereinzelt an einzelnen Standorten lernen und leben.
Frage: Momentan rumort es in der Kirche, bis hin zu ganz grundsätzlichen Anfragen, warum es ein Weihepriestertum überhaupt braucht.
Gärtner: Wir Verantwortlichen haben genauso wie die Seminaristen selbst die Debatten beim Synodalen Weg aufmerksam verfolgt. Die Frage, ob es überhaupt ein sakramentales Priestertum braucht, hat für Verunsicherung gesorgt. Die Verunsicherung war notwendig. Nicht angenehm, aber notwendig. Ich bin überzeugt, dass es das sakramentale Priestertum als Differenzbegriff braucht: Nicht ich selbst bin der Handelnde, sondern Christus ist der eigentlich Handelnde. Das wurde lange vergessen. Stattdessen hatten wir ein sakrales Verständnis von Priestertum: Ich als Priester bin derjenige, der mit Vollmacht handelt. Dabei haben wir gar nicht das Priestertum. Wir haben nur Anteil am Priestertum Christi.
Frage: Differenz ist auch ein ambivalenter Begriff. Klerikalismus ist gerade eine übersteigerte Differenz zwischen Laien und Klerikern. Wie gehen Sie in der Priesterausbildung mit Klerikalismus um? Wie beugen Sie dem vor?
Gärtner: Je mehr wir uns vergewissern, dass Christus der eigentlich Handelnde ist, desto mehr lässt sich Klerikalismus verhindern. Klerikalismus bedeutet gerade, diese Differenz nicht zu beachten und stattdessen selbst Macht und Vollmacht zu beanspruchen. Das ist auch nicht nur ein Problem bei Priestern. Alle im pastoralen Dienst müssen sich vergewissern, dass Christus der eigentlich Handelnde ist.
Frage: Zugleich spielt dann aber bei Priestern doch auch Identität eine Rolle: Der Priester handelt in persona Christi, und dieser Identitätsbegriff geht so weit, dass daraus abgeleitet wird, dass nur Männer Priester werden können. Das spricht doch eigentlich dagegen, Priestertum von der Differenz her zu denken.
Gärtner: Es ist wichtig, darauf zu schauen, wie sich Identitäten konstruieren. Identität kann es in Abgrenzung oder im Miteinander geben. Lange hatten wir in der Kirche ein Modell der Abgrenzung: Priester bestärken sich gegenseitig in ihrer homogenen Gruppe. Das war ein geschlossenes Identitätsmodell. Heute sollte es eher um ein offenes Identitätsmodell gehen, in dem sich Identität im Miteinander entwickelt. Je besser das Miteinander der verschiedenen Berufungen von Frauen und Männern, von Priestern und Laien gelingt, desto klarer kann sich eine Identität im guten Sinn bilden.
Frage: Eine Identität aus Abgrenzung hat auch etwas Attraktives. Der Verdacht gegenüber Seminaristen ist, dass junge Männer aus Motiven der Weltflucht Priester werden wollen und gerade klare Verhältnisse und Sicherheit suchen.
Gärtner: Das ist eine Gefahr. Identität in Abgrenzung ist das scheinbar leichtere Modell, und da muss in der Ausbildung gegengesteuert werden. Wir lösen das so, dass wir bewusst Elemente der Fremdheitserfahrung einplanen: ein völlig neues Umfeld kennenlernen, Arbeitsfelder auszuprobieren, die mir fremd vorkommen. Das ist ein anspruchsvoller Weg. Aber so lässt es sich vermeiden, dass sich Kandidaten in einer homogenen Gruppe nie aus ihrer Komfortzone herausbewegen.
Frage: Die Frage nach dem Zölibat ist immer ein großes Thema. Sie machen die Freiheit stark – mit dieser großen Freiheit kommt aber auch eine strikte Verpflichtung hinsichtlich der Lebensform. Kann man diese Spannung auflösen?
Gärtner: Zum Priestertum gehört immer auch ein besonderes Commitment: Ein Ziel, auf das ich mich verpflichte. Es geht nicht um völlige Freiheit im Sinn von Beliebigkeit. Zur Priesterausbildung gehört es gerade, Menschen dazu zu befähigen, Verpflichtungen verantwortlich und verbindlich einzugehen. Das ist natürlich beim Zölibat in einer Gesellschaft, die dieses Zeichen nicht unbedingt sofort versteht, noch einmal eine besonders große Herausforderung.
Frage: Bisher haben wir über die Qualität von Priesterausbildung gesprochen. Aber auch die Quantität ist wichtig. Was erwarten Sie in Zukunft für eine Entwicklung?
Gärtner: Ich beschreibe da lieber meine Haltung. Ich bin im Blick auf das, was kommt, gelassen. Ich bin natürlich froh, wenn sich viele auf den Weg machen, und vielleicht noch mehr, wenn deutlich wird, dass die Priesterausbildung wirklich bei der Entwicklung der eigenen Berufung hilft. Aber ich werde auch nicht depressiv, wenn die Zahlen klein bleiben oder noch weiter zurückgehen.
Frage: Wie viel Gelassenheit kann man sich unter den gegebenen Bedingungen leisten? Berufungen und vor allem Weihen braucht es schon aus ganz schnöden Gründen der Verwaltung, solange der Pfarrer ein Priester sein muss und man nicht beliebig große Pfarreien bilden will.
Gärtner: Das stimmt. Wir müssen uns aber davor hüten, uns nur systemstützend zu verstehen. Ich rekrutiere ja keine Priester, um brüchige Strukturen nur irgendwie noch am Leben zu erhalten. Es braucht Institutionen, das ist klar. Aber das klassische Modell von Pfarrei ist nicht die Struktur, die wir um jeden Preis erhalten müssen.
Frage: Pfarreien sind aber nicht nur beliebige Organisationseinheiten, sondern auch ekklesiologisch begründete Strukturen. Die Realität ist doch, dass Priester damit rechnen müssen, dass zu ihrem Dienst auch die Leitung immer größerer Einheiten gehört, weil es ohne sie nicht geht.
Gärtner: Wenn wir nur die Stützung dieses Systems im Blick haben, dann tötet das jede Entwicklung. Es hilft keinem Kandidaten in seiner Entwicklung, wenn ich ihm sage, dass er später in jedem Fall eine Pfarrei mit wer weiß wie vielen Zehntausend Katholiken leiten muss. Es braucht das sakramentale Priestertum. Das kann aber ganz unterschiedlich gefüllt werden. Ich war selbst eine Zeit lang in Brasilien und habe erlebt, was es heißt, wenn ein einziger Pfarrer und sein Kaplan für riesige Flächen zuständig sind. Das kann gelingen, wenn das Leben in den Gemeinden gemeinsam mit vielen gläubigen Frauen und Männern getragen wird.
Frage: Können Sie das Ihren Seminaristen guten Gewissens zusagen: Wenn Du bei mir eintrittst, wirst Du später nicht in der Verwaltung zerrieben?
Gärtner: Ich bin da gerne Anwalt für die Kandidaten, auch vor dem Bischof.