Rund 200 Übergriffe allein in den vergangenen drei Jahren

Traurige Serie: Wieso werden in Leipzig so viele Kirchen angegriffen?

Veröffentlicht am 12.02.2023 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 
Traurige Serie: Wieso werden in Leipzig so viele Kirchen angegriffen?
Bild: © KNA

Leipzig ‐ Die Kirchen in Leipzig sind in den vergangenen Jahren stark in den Fokus von Kriminellen geraten, die Zahl der Übergriffe auf Gotteshäuser in der größten Stadt Sachsens hat inzwischen enorme Ausmaße angenommen. Warum? Hängen die Taten zusammen? Und was sagen Betroffene und die Polizei?

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Zum vorerst letzten Mal passierte es kurz nach Weihnachten – und das gleich zweimal an einem Tag. Am 27. Dezember hebelten in der Leipziger Propsteikirche zunächst zwei unbekannte Täter während der Öffnungszeiten der Kirche einen Opferstock aus Granit auf und stahlen die darin liegenden Spendengelder. Nur wenige Stunden später randalierte dann ein anderer unbekannter Mann in dem Gotteshaus. Der Täter warf Bücher umher und beschädigte einige Figuren der Weihnachtskrippe, anschließend flüchtete er.

Die beiden Übergriffe bildeten den unrühmlichen Abschluss eines unter Sicherheitsaspekten höchst herausfordernden Jahres für die katholische Hauptkirche im Zentrum der größten Stadt Sachsens. "Uns hat es 2022 schon reichlich getroffen", sagt Propst Gregor Giele im Gespräch mit katholisch.de mit hörbarer Resignation in der Stimme. Gleich mehrfach wurde seine Kirche Opfer von Straftaten, bei denen es sich keineswegs nur um vermeintlich kleinere Delikte wie Diebstähle oder Fälle von Vandalismus handelte. Aufmerksamkeit sogar über Leipzig hinaus erregten im Frühjahr der Diebstahl des Tabernakels und die Zerstörung eines 20 mal 3 Meter großen Panoramafensters, auf dem die komplette Bibel aufgedruckt war.

Zerstörtes Bibelfenster: 170.000 Euro Schaden

Zwar konnten die Täter in beiden Fällen ermittelt werden. "Sie waren aber psychisch auffällig und deshalb für ihre Taten nicht haftbar zu machen", betont Giele. Der Tabernakel wurde am 8. April von unbekannten Tätern gestohlen, während ein Musiker in der Kirche auf der Orgel spielte. Immerhin: Kurz nach der Tat wurde der Schrein unweit der Kirche und nur leicht beschädigt wiedergefunden; die Anzahl der bei dem Diebstahl verschwundenen Hostien konnte allerdings nicht genau beziffert werden. Das Bibelfenster wiederum wurde von einem 38-jährigen Mann eingeschlagen, der wegen häuslicher Gewalt bereits zuvor polizeibekannt war. Der von ihm verursachte Schaden belief sich auf rund 170.000 Euro. Da bei dem Täter laut Giele "nichts zu holen" und das Fenster nicht versichert war, muss die Gemeinde die Kosten für die Reparatur selbst aufbringen – ein enormer finanzieller Kraftakt.

Bild: ©katholisch.de/stz

Propst Gregor Giele ist an der Leipziger Propsteikirche tätig.

Doch es war nicht nur die prominent am stark frequentierten Leipziger Innenstadtring gelegene Propsteikirche, die im vergangenen Jahr unter den Umtrieben von Kriminellen zu leiden hatte. Auch zahlreiche andere evangelische und katholische Gotteshäuser waren betroffen. Doch wie viele waren es genau? Die "Leipziger Volkszeitung" nannte im November die Zahl von zwölf Angriffen und Drohungen gegen Kirchen, über die sie bis dahin im Jahr 2022 berichtet hatte. Doch die tatsächliche Zahl lag deutlich höher.

Auf Anfrage von katholisch.de erklärt die Polizeidirektion Leipzig, dass sie im vergangenen Jahr Übergriffe auf Kirchen "im oberen zweistelligen Bereich" verzeichnet habe. Dies bedeutete laut der Behörde einen spürbaren Zuwachs gegenüber 2020 und 2021, in denen es entsprechende Taten jeweils "im mittleren zweistelligen Bereich" gegeben habe. Daraus folgt, dass die Zahl der Straftaten gegen Leipziger Kirchen in den vergangenen drei Jahren bei rund 200 gelegen haben könnte – eine enorm hohe Zahl.

Die Übergriffe finden auf Kirchen in der ganzen Stadt statt

Natürlich: Wer die entsprechende Polizeimeldungen und Medienberichte verfolgt, weiß, dass es beinahe täglich irgendwo in Deutschland zu Übergriffen gegen Gotteshäuser kommt. Leipzig dürfte in dieser Statistik jedoch – zumal gemessen an der recht überschaubaren Präsenz kirchlicher Gebäude in der Stadt – einen traurigen Spitzenplatz einnehmen.

Wer sich näher mit den einzelnen Taten beschäftigt, stellt fest, dass die Übergriffe in der ganzen Stadt stattfinden, eine Konzentration auf bestimmte Stadtviertel oder Gotteshäuser gibt es nicht. Und auch die Täter und ihre Motive, die teilweise ermittelt werden konnten, ergeben kein homogenes Bild. "Wir gehen deshalb davon aus, dass die Angriffe keine konzertierte Aktion sind, sondern dass es sich jeweils um Einzeltaten handelt", betont Propst Giele. Auch einen speziellen Hass auf Kirchen und alles Religiöse, wie man ihn angesichts der niedrigen religiösen Grundsubstanz in Leipzig und Ostdeutschland vielleicht vermuten könnte, sieht der Geistliche nicht: "Diese These wäre mir als Begründung zu heiß."

„Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Hemmschwelle und das Tabu gegenüber Kirchengebäuden in der Gesellschaft insgesamt sinken.“

—  Zitat: Propst Gregor Giele

Auch die Leipziger Polizei sieht bei den meisten Angriffen keinen Zusammenhang, dafür seien die registrierten Taten zu unterschiedlich. Gleiches gelte auch für die Motive der Täter. Neben Zerstörungslust, Verhaltensauffälligkeiten und Beschaffungskriminalität könnten auch politische und religiöse Motive "für destruktives Handeln gegenüber Gotteshäusern infrage kommen", so Sprecherin Dorothea Benndorf gegenüber katholisch.de. Ist die hohe Zahl an Übergriffen auf Kirchen in der Stadt am Ende also nur Zufall?

Zumindest ein verbindendes Element bei den Angriffen gegen die Gotteshäuser vermutet Propst Giele doch: "Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Hemmschwelle und das Tabu gegenüber Kirchengebäuden in der Gesellschaft insgesamt sinken", sagt der Geistliche. Möglicherweise habe die spürbare Zunahme der Übergriffe zumindest in den vergangenen drei Jahren zudem auch mit Corona zu tun. Schließlich seien die Kirchen in der Hochphase der Pandemie häufig die einzigen öffentlichen Gebäude gewesen, die noch offen waren. "Das könnte vor allem die deutliche Zunahme an Diebstählen erklären", so der Geistliche. Die Opferstöcke in der Propsteikirche seien regelmäßig Ziel von Langfingern: "Wir reparieren sie nach den Taten zwar immer wieder, aber ein Stück weit ist das ein Hase-und-Igel-Spiel, bei dem wir meist die Verlierer sind."

Trauer und Wut in der Propsteigemeinde

Verzweifeln will Giele trotz der zahlreichen Übergriffe auf seine Kirche aber nicht. "Natürlich sorgen Vorfälle wie der Tabernakel-Diebstahl oder die Zerstörung des Bibelfensters für Trauer und Wut. Angesichts der großen Zahl an Menschen, die täglich unsere Kirche besuchen, handelt es sich aber doch nur um Einzelfälle. Die Welt ist nicht so schlecht, wie manche vielleicht meinen", betont der Priester. Wenn wieder einmal etwas passiert sei, rede man in der Gemeinde viel miteinander und versuche, das Geschehene auf diese Weise aufzuarbeiten.

Und wie sieht es mit Sicherheitsmaßnahmen aus? Da ist Giele skeptisch. Die Öffnungszeiten der Kirche einzuschränken, ist aus seiner Sicht keine Option: "Im Pfarreirat besteht Einigkeit darüber, dass die Kirche weiter offenbleiben soll. Das ist ein Angebot, das die Minderheit, die die Öffnungszeiten für Übergriffe ausnutzt, der friedlichen Mehrheit nicht versauen soll." Auch einen Wachdienst oder gar Überwachungskameras lehnt der Propst ab. "Gerade Überwachungskameras signalisieren ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allen Menschen, die in die Kirche kommen. So wollen wir als Gemeinde nicht miteinander umgehen", betont Giele.

Bild: ©katholisch.de/stz

Die Propsteikirche St. Trinitatis im Zentrum von Leipzig wurde im Jahr 2015 geweiht.

Dennoch bewegen er und die anderen Mitarbeiter der Gemeinde sich inzwischen wachsamer durch die Kirche und das direkt angrenzende Gemeindezentrum. Die Räume des Zentrums werden fast täglich für Veranstaltungen genutzt, dementsprechend wuselig geht es dort teilweise zu. "Wir freuen uns, dass die Räume so viel genutzt werden, aber natürlich erleben wir auch, dass sich – gerade dann, wenn es unübersichtlich wird – immer wieder auch unliebsamer Besuch im Gebäude aufhält", sagt Giele. Die Propsteikirche liege in der Nähe eines Drogenumschlagplatzes, die daraus resultierende Beschaffungskriminalität sei ein großes Problem.

Wird 2023 ein sichereres Jahr für die Leipziger Kirchen?

Unterstützung im Kampf gegen die Kriminalität bekommen die Propsteikirche und die anderen betroffenen Gotteshäuser in Leipzig auch von der Polizei. Aufgrund der gestiegenen Zahl an Übergriffen habe Polizeipräsident René Demmler vor einiger Zeit Gespräche mit Kirchenvertretern geführt, "um sich künftig noch besser auszutauschen und die Zusammenarbeit zu erhöhen", so Polizeisprecherin Benndorf. Ein Ergebnis dieser Gespräche sei gewesen, dass die Kirchengemeinden die Polizei vorab über Bauarbeiten an ihren Kirchen informierten, da solche Arbeiten Tätern zusätzliche Tatgelegenheiten böten: "Wir beziehen dies dann mit in unsere Streifentätigkeit ein und erhöhen diese anlassbezogen." Zudem sei man jederzeit bereit, mit den Gemeinden in Verbindung zu treten und mögliche Probleme zu erörtern sowie Präventionshinweise zu geben.

Giele bestätigt das – "Die Polizei ist sehr hilfsbereit und entgegenkommend" –, mehr Fahrten von Streifenwagen im Umfeld der Kirchen hält er jedoch nur für wenig erfolgversprechend. Mehr Hoffnungen setzt er auf einen Termin Ende März. Dann veranstalte die Polizei eine Schulung zu sicherheitsrelevanten Fragen, zu der alle leitenden Pfarrer der Stadt eingeladen seien. Und immerhin: In diesem Jahr blieb die Propsteikirche bislang von Übergriffen verschont. Vielleicht wird 2023 also ein etwas sichereres Jahr für die Leipziger Kirchen.

Von Steffen Zimmermann