Strafrechtler sieht schwere Mängel im Kölner Missbrauchsgutachten
Der emeritierte Bochumer Strafrechtler Rolf Dietrich Herzberg hält das Kölner Missbrauchs-Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger für "in erschütterndem Ausmaß fehlerhaft". In einem Beitrag für die "Zeitschrift für Internationale Strafrechtswissenschaft" (Ausgabe 1/2023) sieht der Jurist eine größere Verantwortung des jeweiligen Diözesanbischofs für Missbrauchstaten von Klerikern, als es das Gercke-Gutachten angenommen hatte. "Die Gutachter verfehlen das 'staatliche Recht', das heranzuziehen und richtig zu deuten ihr Auftrag war, in grober Weise", stellt Herzberg fest. Auf Anfrage teilte die Kanzlei Gercke Wollschläger mit, dass man nicht beabsichtige, sich dazu zu äußern, da die Argumente dazu hinlänglich ausgetauscht seien: "Wir halten die Kritik für unbegründet, worauf wir bereits wiederholt hingewiesen haben.".
Die Einstandspflicht der Bischöfe bezogen auf Sexualstraftaten der Kleriker ihres Bistums werde viel zu weitgehend verneint: Sie "scheuen nicht den dreisten Versuch, eine selbst vorgefundene und handfeste Organisationsherrschaft (Leitungsgewalt) von Bischöfen unter lediglich selektiver Auswertung kirchenrechtlicher Erwägungen 'hinwegzuspiritualisieren'", obwohl im kirchenrechtlichen Teil des Gutachtens eine entsprechende "Organisationsherrschaft" betont werde. Der Strafrechtler wirft dem Gutachten vor, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) zur "Geschäftsherrenhaftung" selektiv ausgewertet zu haben und bei ihrer Bewertung zu wenig auf die jeweiligen Einzelfälle abgestellt zu haben. Literatur werde nur zur Stützung der Thesen der Gutachter herangezogen, widerstreitende Meinungen würden dagegen verschwiegen.
Herzberg geht davon aus, dass Diözesanbischöfe sich wegen Beteiligung an einer Sexualstraftat des ihnen zum Gehorsam verpflichteten Priesters strafbar machen können. Ein aktives Hilfeleisten könne darin zu sehen sein, dass ein Bischof einen auffällig gewordenen Priester in eine andere Gemeinde versetzt und ihn dort erneut als Seelsorger einsetzt. Beim erneuten Einsatz eines Priesters, der bereits wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurde oder dessen "Tatgeneigtheit" dem Bischof hinreichend bekannt ist, könnte nach der Ansicht des Strafrechtlers "vielfach der kongruente Beihilfevorsatz" gegeben sein. "Angesichts dieser innerbetrieblichen Organisationsmacht ist es richtig, den Bischof für Missbrauchstaten mit Betriebsbezug (Ausnutzen des Priesteramts) als einstandspflichtig anzusehen", betont Herzberg.
Bereits zuvor Kritik am Gutachten
Schon im Juni 2021 hatten Juristen dem im Auftrag von Kardinal Rainer Maria Woelki angefertigten Gutachten "schwere Mängel" attestiert. Wie Herzberg sah auch der Mainzer Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld eine selektive Auswertung der BGH-Rechtssprechung im Bereich der Geschäftsherrenhaftung. Die Kanzlei hatte die Kritik an ihrem Gutachten als "schlicht falsch" zurückgewiesen. Herzberg geht in seinem Beitrag auf diese Auseinandersetzung ein und wirft der Kanzlei Gercke Widersprüche in der Entgegnung vor.
Im März 2021 wurde das Gercke-Gutachten der Öffentlichkeit vorgestellt, nachdem ein zuvor angefertigtes Gutachten der Münchner Kanzlei WSW aufgrund von der Kanzlei bestrittener inhaltlicher Mängel zurückgehalten wurde. Das veröffentlichte Gutachten stellt Pflichtverletzungen bei ehemaligen Kölner Erzbischöfen und weiteren Verantwortlichen fest, nicht aber beim amtierenden Erzbischof Woelki.
Herzberg lehrte von 1974 bis zu seiner Emeritierung 2003 an der Ruhr-Uni Bochum, wo er den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Allgemeine Rechtstheorie innehatte. Der Jurist gehört zu den Gründern des Instituts für Weltanschauungsrecht, einer Einrichtung der säkularen Giordano-Bruno-Stiftung, das sich für Säkularismus und weltanschauliche Neutralität des Staats einsetzt. (fxn)
3. Februar 2023, 15 Uhr: Ergänzt um Antwort der Kanzlei Gercke Wollschläger.