Märtyrer, Pestheiliger und queere Ikone – Der heilige Sebastian
Der heilige Sebastian hat in den rund 17 Jahrhunderten seit seinem Tod eine erstaunliche Wandlung durchgemacht: von der historischen Figur eines Märtyrers zur Zeit der Christenverfolgung in Rom bis hin zur Ikone für Homosexuelle und Identifiaktionsfigur für Aids-Kranke (oben eine Darstellung aus dem Jahr 1615 aus den Musei Capitolini in Rom). Wie die Figur diesen Spagat meistert.
Frage: Frau Höllinger, Herr Goertz, wer war der historische Sebastian?
Goertz: Über die historische Person gibt es nur sehr spärliches Wissen. Es wird überliefert, dass Sebastian aus Mailand stammte, Ende des dritten Jahrhunderts zur Zeit der Christenverfolgung in Rom als Märtyrer gestorben ist und auf einem Friedhof außerhalb der Stadt beigesetzt wurde. Sein Grab kann man in der Basilika St. Sebastian vor den Mauern bis heute besuchen. Die römische Gemeinde hat Sebastian aufgrund seines außergewöhnlichen Glaubenszeugnisses schon früh kultisch verehrt. Seine Legende aber entstand erst rund 150 Jahre nach seinem Tod.
Frage: Er soll ja ein doppeltes Martyrium erlitten haben. Ist das auch Legende?
Goertz: Das doppelte Martyrium ist tatsächlich eine legendarische Ausschmückung. Sebastian war der Erzählung nach ein hoher kaiserlicher Offizier. Er wurde angeklagt, weil er sich heimlich für andere Christen eingesetzt und sie zum entschiedenen Zeugnis ermutigt hat. Daraufhin sollten ihn Soldaten mit Pfeilen töten – doch er überlebte wie durch ein Wunder. Statt zu fliehen, trat er erneut vor die Kaiser und beschuldigte sie der Christenverfolgung. Daraufhin ließen sie ihn zu Tode knüppeln. Dieses zweite Martyrium ist nahezu in Vergessenheit geraten. Auch in der Kunst hat diese Szene keine große Beachtung gefunden.
Frage: Berühmt wurde Sebastian Jahrhunderte später in einem ganz anderen Kontext. Wie kam es zum Aufstieg vom römischen Lokalheiligen zum in ganz Europa verehrten Pestheiligen?
Höllinger: Im 8. Jahrhundert berichtet Paulus Diaconus in seiner Geschichte der Langobarden von einem Pestwunder im Jahr 680. Wir wissen aus Quellen, dass in diesem Jahr in Pavia und Rom die Pest wütete. Erst als man in Pavia einen Altar zu Ehren des heiligen Sebastian errichtet hatte, soll die Seuche ein Ende gefunden haben. Viel später, im 13. Jahrhundert, hat die weit verbreitete "Goldene Legende" diese Geschichte wieder aufgegriffen. Als erneut in Europa die Pest ausbrach, wurde Sebastian zu einem Heiligen, auf den sich die Hoffnungen der Gläubigen richteten. Denn er hatte die Pfeile überlebt, die seit der Antike als göttliche Strafe und Auslöser von Seuchen gedeutet wurden. Gleichzeitig änderte sich die Darstellung Sebastians in der Kunst. Der Heilige erlebt ein Makeover. Er wird zu einem schönen jungen Mann, dessen Körper durch die Marter nahezu unversehrt erscheint. Das kommt dem Bedürfnis der Renaissance entgegen, sich am Ideal antiker sinnlicher Körperlichkeit zu orientieren. Darüber hinaus wurde dem Schönen im 14./15. Jahrhundert manchmal eine heilende Wirkung zugesprochen…
Frage: …was überleitet zur nächsten großen Rolle des Heiligen – Sebastian als queere Ikone. Das hatte in den Darstellungen der Renaissance seinen Ursprung?
Goertz: Genau. Frühe Darstellungen zeigen Sebastian, ganz im Gegensatz zu späteren Bildern, als älteren Soldaten in zeitgenössischer Kleidung. Wie gerade angesprochen, gewinnt Sebastian in der Renaissance einen neuen Look. Seine Züge werden weicher, er zeigt "Anmut in der Qual" – eine Formulierung, mit der Thomas Mann seinen Lieblingsheiligen beschrieben hat. Sebastian verliert seine soldatische Männlichkeit. Für die weitere Geschichte weichenstellend ist, dass im 19. Jahrhundert homosexuelle Männer diesen neuen Sebastiantypus für sich entdecken. Der Dichter August von Platen (1796–1835) – aus seinen Tagebüchern wissen wir um sein homoerotisches Begehren – findet sich wieder in der Spannung aus Schönheit und Schmerz, die dieser Heilige in sich vereint. Sebastian wird neu rezipiert: Auf der einen Seite weckt seine Schönheit erotisches Interesse, auf der anderen Seite bietet sein Schmerz hohes Identifikationspotential für jene, die an der Missachtung ihrer Sexualität leiden. Künstler wie Platen identifizieren sich nun mit diesem attraktiven und attackierten Heiligen, der durch die Fessel des Tabus daran gehindert wird, seine Identität offen zu zeigen und zu leben. So wird dieser gefesselte Eros im 19. Jahrhundert zur queeren Ikone. Oscar Wilde etwa betrachtet in Genua ein Sebastian-Gemälde von Guido Reni, einem barocken Meister, und ist hingerissen von diesem sinnlichen Heiligen. Als Wilde wegen seiner Homosexualität später der Prozess gemacht wird und er nach seiner Gefängnisstrafe ins Exil geht, gibt er sich den Decknamen Sebastian. Das diente seiner Tarnung, gleichzeitig offenbarte er sich damit. Denn die Figur des heiligen Sebastian war inzwischen Teil eines Codes geworden, mit der queere Personen ihre geschlechtliche Identität enthüllen konnten.
Frage: Für die katholische Kirche war das sicher eine eher delikate Angelegenheit…
Höllinger: Unseren Recherchen nach ignoriert die katholische Kirche weitgehend diese neue Rezeption ihres Heiligen. Selbst die meisten theologischen Beiträge über den heiligen Sebastian erwähnen die queere Lesart – wenn überhaupt – nur beiläufig. Das ist umso erstaunlicher, als es in den Kunst- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahrzehnten eine durchaus breite Debatte dazu gibt. Mit unserem Buch wollen wir diese Erkenntnisse in ein theologisches Gespräch bringen. Eine für uns zentrale Entdeckung ist dabei, dass Sebastian gerade dann zu neuem Leben erwacht, wenn Menschen ihre schmerzvollen Erfahrungen angesichts von Benachteiligung und Ungerechtigkeit zum Ausdruck bringen wollen. So erklärt sich auch die auf den ersten Blick verblüffende Inszenierung des Boxers Muhammad Ali im Jahr 1968 als heiliger Sebastian auf dem Cover des Magazins Esquire.
Frage: Und in den 80er-Jahren wird Sebastian zu einer wichtigen Figur für AIDS-Kranke…
Höllinger: Tatsächlich wird Sebastian in der AIDS-Epidemie zu einer prominenten Protestfigur. Besonders queere Menschen erleiden in den ersten Jahren starke Diskriminierungen. Auch aus dem Raum der katholischen Kirche. Ihre Krankheit wird lange – wie früher die Pest – als Strafe Gottes gedeutet. Der bislang in der Theologie so gut wie unbeachtete Künstler David Wojnarowicz zum Beispiel, der später selbst an den Folgen von AIDS starb, hat Sebastian in den 1980/1990er Jahren mehrfach in seinen Arbeiten aufgegriffen. In unserem Buch zeigen wir eine eindrucksvolle Collage von Wojnarowicz, auf der er mit Sebastian den gesellschaftlichen Umgang mit HIV-/AIDS-Kranken anklagt.
Frage: Was kann die Kirche aus der Geschichte ihres "entfremdeten" Heiligen lernen?
Goertz: Zunächst sehen wir an Sebastian, zu welchen unvorhersehbaren Transformationen Heiligenfiguren in der Lage sind. Das Schicksal eines Heiligen ist nicht planbar. Seine Geschichte ist verwoben in bestimmte religiöse und soziale Kontexte. Sebastian ist historisch immer wieder neu interpretiert worden. Mit dem Heiligen verbindet sich eine starke Botschaft, die Menschen offenbar noch heute berührt. Wird die Deutung jedoch an einem bestimmten Punkt eingefroren, erstarrt auch die Figur und hat keine Gegenwartsrelevanz mehr.
Frage: Wenn aber derselbe Heilige einmal als Pestheiliger und einmal als queere Ikone verehrt wird, zeigt das nicht auch eine gewisse Willkür?
Höllinger: Ich würde nicht von Willkür sprechen. Es gibt eine Idee, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte dieses Heiligen zieht: Sebastian schlägt sich immer auf die Seite derer, die von Unheil getroffen sind. Seine Bilder zeigen den Schmerz von Menschen – bis in die Gegenwart. Oder theologisch gesprochen: Als Ikone des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit verlebendigt Sebastian eine christliche Hoffnung. Das Leid wird nicht das letzte Wort haben. Gott wird retten. Das ist bereits die Kernbotschaft der biblischen Theologie des Martyriums.
Frage: Während der Corona-Krise hat die Kirche ihren Pestheiligen aber nicht gerade besonders ins Schaufenster gestellt…
Goertz: Das stimmt. Wenn der Papst in den vergangenen drei Jahren himmlischen Beistand erbat, dann von der Gottesmutter – nicht vom heiligen Sebastian. Man hat in diesem Sinne, so lässt sich vielleicht sagen, nicht nur den Kontakt zu Sebastian als queere Ikone verloren, sondern verzichtet auch auf seine Hilfe als Seuchenheiliger. Und wenn nicht alles täuscht, hat selbst der kürzliche Versuch, Sebastian als Patron der Sportler zu etablieren, keine sonderlich große Resonanz erfahren. Seine Vitalität entfaltet Sebastian erkennbar außerhalb der Kirche. Diese Vitalität aufzudecken und theologisch fruchtbar zu machen, ist Anliegen unseres Buches.
Buchhinweis
Stephanie Höllinger und Stephan Goertz: Sebastian: Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone, 240 Seiten, Herder 2023, 30 Euro.