Für die Freiburger Erzbischöfe stand der Ruf der Kirche über der Gerechtigkeit

Zollitsch und der Missbrauch – was Recht ist, war für ihn nur lästig

Veröffentlicht am 19.04.2023 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Beim Freiburger Missbrauchsbericht kommt das Kirchenrecht in den Blick: Die Erzbischöfe Saier und Zollitsch fühlten sich nicht an die Regeln zum Umgang mit Missbrauch gebunden – für sie stand der Schutz der Kirche im Mittelpunkt. Die einstige Rechtlosigkeit in Freiburg ist symptomatisch.

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"Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?", fragte der Kirchenvater Augustinus von Hippo (selbst Diözesanbischof) in seinem Hauptwerk "Vom Gottesstaat". Für die Kirche gilt dasselbe: Kirchenrecht will durch Regeln und Normen für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen. Klare Verfahren statt Willkür. Dazu muss es aber auch angewandt werden, ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf das Ansehen der Kirche. Unbekannt war das kirchliche Recht dem ehemaligen Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch nicht. Er hat es sogar angewandt – selektiv. Der Abschlussbericht der Akten-Arbeitsgruppe der Aufarbeitungskommission nimmt sich den Umgang des Erzbischofs und seines Vorgängers mit dem Recht besonders ausführlich vor und zeichnet ein Bild einer nicht vorhandenen Rechtskultur, in der Vertuschung zum Programm wurde.

Das ganze Ausmaß dieser fehlenden Rechtskultur zeigt sich an der Person Zollitschs, der vor seiner Zeit an der Spitze der Erzdiözese seit 1983 Personalreferent unter Erzbischof Oskar Saier (1978–2002) war. Saier wurde beim Übervater des Kirchenrechts in Deutschland im 20. Jahrhundert, dem Münchner Kanonisten Klaus Mörsdorf, mit einer Dissertation über den Communio-Begriff des Zweiten Vatikanischen Konzils promoviert. Diese Expertise führte aber weder zu einer angemessenen kirchenrechtlichen Behandlung von Missbrauchsfällen noch dazu, dass er, wie es im Konzilsdokument "Gaudium et spes" heißt, die "Trauer und Angst der Menschen" bei Missbrauchsbetroffenen zu seiner Sache gemacht hätte. Saier zeigte sich so unbeeindruckt für Betroffene wie sein Nachfolger.

Abschlussbericht zur Aktenanalyse vorgestellt

Die am Dienstag veröffentlichte Bericht zum Erzbistum Freiburg sieht bei den früheren Erzbischöfen Robert Zollitsch und Oskar Saier schweres Fehlverhalten und gravierende Rechtsverstöße im Umgang mit Straftaten durch Priester. Der Schutz der Institution Kirche und der Täter habe über allem gestanden, sagte Studienautor Eugen Endress bei der Vorstellung des 600-Seiten-Berichts. Für Betroffene und Angehörige habe es dagegen keine Hilfen gegeben. Der Leiter der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Freiburg, Magnus Striet, geht von mehr als 250 Priestern seit 1945 aus, die des Missbrauchs schuldig sind oder beschuldigt werden. Die Zahl der Opfer gab Striet mit mindestens 540 an. Die Zahlen seien aber mit großer Vorsicht zu betrachten, weil von einem erheblich größeren Dunkelfeld auszugehen sei.

Missbrauchsbetroffene zeigten sich schockiert über die Ergebnisse des Berichts zu sexualisierter Gewalt und Verschleierung im Erzbistum Freiburg. Die Untersuchung dokumentiere schwarz auf weiß, dass der Kirche "missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig waren", heißt es in einer ersten Stellungnahme des Betroffenenbeirats im Erzbistum. Dagegen seien die Täter grausamster Verbrechen geschützt worden.

Zollitsch ist dezidiert kein Kanonist. Mit Saier war er aber schon als Personalreferent im engsten Kreis der Vertuschung. Als Erzbischof wurde die fehlende formale kanonistische Expertise gewissermaßen Programm. Ein eigener Abschnitt im Bericht widmet sich auf fast 40 Seiten der "Ignoranz des kanonischen Rechts" durch den Erzbischof. Das Ergebnis ist deutlich: Der Erzbischof und langjährige Personalchef des Bistums kannte seine rechtlichen Verpflichtungen als Diözesanbischof. Er machte aber erst ganz am Ende seiner Amtszeit erste Anstalten, diese Verpflichtungen auch umzusetzen. Die Autoren der Studie, ein ehemaliger Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht und ein Oberstaatsanwalt a.D., arbeiten mit einem Beispiel heraus, dass die Ignoranz des Rechts beim Umgang mit Missbrauch von Kindern und Jugendlichen Methode hatte, anderswo aber nicht: Gegen einen Priester, der einvernehmliche sexuelle Beziehungen mit drei erwachsenen Frauen hatte, konnte Zollitsch zur Härte des kirchlichen Gesetzes greifen. Bei dieser Verfehlung "gegen das sechste Gebot des Dekalogs" wurde er tätig. Auf die kirchenrechtlich vorgesehene Meldung von Missbrauch von Kindern und Jugendlichen bei der Glaubenskongregation dagegen verzichtete der Erzbischof, die verbindlichen Leitlinien wie die universalkirchenrechtlichen Bestimmungen scheinen nicht einmal als unverbindliche Empfehlung aufgefasst worden zu sein. Stattdessen wurden sie einfach ignoriert. Die Arbeitsgruppe konnte "in keinem der untersuchten Fälle – wiederum der episkopalen Tradition folgend – feststellen, dass auch nur ansatzweise sorgfältige kanonische Überlegungen angestellt worden wären".

Einvernehmlicher Zölibatsbruch schlimmer als Missbrauch von Minderjährigen

Aus dieser Gegenüberstellung ziehen die Autoren ein vernichtendes Fazit: "Erzbischof Dr. Zollitsch hielt eine einverständliche sexuelle Beziehung zweier Erwachsener, bei der eine der beiden Personen ein Priester ist, offensichtlich für kanonisch-strafrechtlich verfolgungswürdiger und somit für einen gewichtigeren Verstoß gegen das sechste Gebot als den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch einen Priester."

Nach Einschätzung einer von den Autoren befragten Führungskraft im Erzbistum wollte Zollitsch vom Recht, insbesondere vom kirchlichen Strafrecht, nichts wissen. "Die Juristen sollen mir nicht sagen, was nicht geht, sondern sagen, wie es geht!", soll der Erzbischof dazu gesagt haben. Die Antriebsfeder hinter der Weigerung, auch nach ausdrücklichen Weisungen und Gesetzen aus Rom keinen Fall von Missbrauch zu melden, scheint die bedingungslose Sorge um den Ruf der Kirche zu sein. Für die schweren Sexualdelikte hatte schon Papst Johannes Paul II. mit dem Motu proprio "Sacramentorum sanctitatis tutela" 2001 die zuvor geheime Verfahrensordnung reformiert und zum öffentlich bekannten Kirchengesetz gemacht.

Bischof Karl Lehmann und Erzbischof Oskar Saier
Bild: ©KNA (Archivbild)

Bischof und später Kardinal Karl Lehmann (l.) war Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Oskar Saier sein Stellvertreter. Beiden wurden erhebliche Versäumnisse und Pflichtverletzungen im Umgang mit Missbrauch nachgewiesen.

Erst 2014, am Ende seiner Zeit an der Spitze der Erzdiözese, stieß Zollitsch erstmals die Meldung von sieben Fällen nach Rom an. So spät, dass die eigentliche Meldung erst durch seinen Nachfolger, den heute noch amtierenden Erzbischof Stephan Burger erfolgte. Burger, unter Zollitsch Offizial, also Leiter des Kirchengerichts der Erzdiözese, erinnert sich an diesen Fall in der Befragung durch die Autoren. Zollitsch habe die Fälle ausgewählt, die "die geringste Überwindung gekostet" hätten, und das erst, als es nicht mehr noch weiter hinausgezögert werden konnte.

Bezeichnend ist auch eine Auslassung, die die Autoren im Abgleich des Hirtenbriefs von Papst Benedikt XVI. an die Katholiken in Irland von 2010 mit der Reaktion von Zollitsch in seiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) bemerken. Benedikt XVI. hatte sich in seinem Brief zum Umgang mit sexuellem Missbrauch geäußert. Ein eigener Abschnitt wendet sich "an meine Mitbrüder im Bischofsamt": "Es kann nicht geleugnet werden, daß einige von Euch und von Euren Vorgängern bei der Anwendung der seit langem bestehenden Vorschriften des Kirchenrechts zu sexuellem Mißbrauch von Kindern bisweilen furchtbar versagt haben." Der Papst rief die Bischöfe dazu auf, die Normen des Kirchenrechts vollständig umzusetzen und daneben auch weiter mit den staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten.

"Manifeste vertuschungsgeprägte antijuridische Haltung"

In Zollitschs Reaktion auf den Brief fehlte genau jene Ermahnung der Bischöfe, das Kirchenrecht zu befolgen. Für die Autoren des Berichts ist diese Lücke sprechend: Die vom Papst ins Auge gefassten kanonischen Defizite würden auf Zollitsch "geradezu exemplarisch in besonderem Maße" zutreffen. Das Urteil im Bericht über den emeritierten Erzbischof fällt drastisch aus: Im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen gegen Kleriker legte Zollitsch nach ihrer Erkenntnis über Jahre hinweg eine "manifeste vertuschungsgeprägte antijuridische Haltung" an den Tag – und zwar bei eigentlich vorhandener Kenntnis über die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen und Vorgaben, wie anhand ausführlicher Schilderungen aus Akten, Protokollen und Gesprächen deutlich wird.

In den Stellungnahmen von Zollitsch – er konnte sich zu den Erkenntnissen äußern, hat das aber in vielen Fällen nicht getan – scheint immer noch ein großer Unwille auf, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. In der Pressekonferenz sagte einer der Autoren, der Richter im Ruhestand Eugen Endress, dass Zollitsch meist von "wir" und kaum in der ersten Person Singular von Verantwortung gesprochen habe. Zu seiner Untätigkeit, auf die neuen kirchenrechtlichen Vorgaben zur Meldung zu reagieren, gab er – im Passiv – zu Protokoll, dass eine größere Transparenz auch gegenüber Rom hätte geschaffen werden müssen: "Der hiermit erforderliche Kulturwandel ist von der Erzbischöflichen Kurie nicht herbeigeführt worden", so Zollitsch. Zur Meldung verpflichtet ist dem damals schon geltenden Recht zufolge nicht eine "erzbischöfliche Kurie" mit ihrer speziellen Kultur, sondern der Ordinarius, also der Diözesanbischof und sein Generalvikar.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller spricht mit Papst Franziskus
Bild: ©KNA/Paul Haring/CNS photo (Archivbild)

Warum fiel dem Glaubenspräfekten Müller nicht auf, dass aus Freiburg keine Fälle gemeldet wurden? Wie geht Papst Franziskus mit der kirchenrechtlichen Anzeige gegen Zollitsch um?

Anscheinend ist die Erzdiözese Freiburg die einzige deutsche Diözese, die auf die vorgeschriebenen Meldungen verzichtet hat. Das wirft für die Autoren die Frage auf, wie das in Rom nicht bemerkt werden konnte – zumal der Glaubenskongregation mit Kardinal Joseph Ratzinger (1983–2005) und Kardinal Gerhard Ludwig Müller (2012–2017) auch Deutsche vorgestanden haben. Warum die jahrelange Nullmeldung im fast zwei Millionen Katholiken umfassenden Bistum des DBK-Vorsitzenden in Rom anscheinend nicht bemerkt wurde, bleibt offen. Die Autoren vermuten Kontakte zwischen Zollitsch und der Kongregation, ohne sich auf Spekulationen einzulassen, worin diese bestanden – und welche Gründe es für eine Schonung Zollitschs geben könnte.

Neue Facetten zu günstigen Bedingungen für Missbrauch

Der Freiburger Abschlussbericht fügt den Kenntnissen über die Bedingungen, unter denen Missbrauch geschehen konnte, eine weitere Facette hinzu. Vieles davon war grundsätzlich schon bekannt. Die mangelhafte und willentlich unvollständige Aktenführung haben auch schon andere Gutachten angemerkt, beginnend mit der bundesweiten MHG-Studie von 2018. Als Konsequenz haben sich die deutschen Bischöfe eine klare und strikte Personalaktenordnung gegeben. Eine "umfassende Rechtsunkenntnis in der gesamten [Diözesan-]Kurie" hatte das Kölner Gercke-Gutachten vor zwei Jahren festgestellt. Dort war die Diagnose, dass Verantwortungsträger Vorschriften für zu umständlich hielten und einen informellen oder gar "pastoralen" Weg den rechtlichen Vorgaben vorzogen. Auf Unkenntnis können sich die Freiburger Erzbischöfe vor dem amtierenden nicht berufen. Umso deutlicher wird die Triebfeder, die Institution und die Mitbrüder zu schützen. Da geben sich der Freiburger Zollitsch, der Kölner Kardinal Joachim Meisner und der Mainzer Kardinal Karl Lehmann nichts. Wie Lehmann – als DBK-Vorsitzender der Vorgänger Zollitschs – hat auch Zollitsch bis zuletzt keine Einsicht gezeigt, und wie bei Lehmann waren Verbesserungen am Ende der jeweiligen Amtszeit eher dem Umfeld im Ordinariat geschuldet, das die Zustände zunehmend als untragbar empfand.

Der Fokus auf die Beachtung des kirchlichen Rechts ist wertvoll. Beide Diagnosen, die Kölner der Unkenntnis wie die Freiburger der Ignoranz, zeigen den Stellenwert genuin kirchlicher Regelungen. Bei allen eigenen Unzulänglichkeiten, die Papst Franziskus im Umgang mit Missbrauch an den Tag legt: Die verheerende Wirkung eines antijuridischen Affekts bei Bischöfen hat er klar erkannt. Bei seiner Reform des kirchlichen Strafrechts, die im Dezember 2021 in Kraft getreten ist, hat er die kirchliche Strafbestimmungen nicht nur im Normtext verbindlicher gemacht. Zugleich schärfte er den Bischöfen ein, das Recht auch wirklich anzuwenden: "Die Nachlässigkeit eines Hirten, wenn es darum geht, das Strafrecht anzuwenden, macht deutlich, dass er seine Aufgabe nicht recht und treu ausübt." Das Strafrecht hat für den Papst unter anderem die Funktion, Ärgernisse zu beseitigen. Diese Sichtweise ist ein Fortschritt: Auch Zollitsch wollte Ärgernisse von der Kirche fernhalten – aber indem sie unter den Teppich gekehrt werden, nicht, indem sie rechtlich aufgearbeitet werden.

Wie es um die Ermahnung und die Zielbestimmung des Papstes zum kirchlichen Recht in der Praxis bestimmt ist, kann sich nun am Fall Zollitsch bewähren. Rom ist bereits mit dem Fall betraut, teilte sein Nachfolger Burger in seiner ersten Reaktion direkt nach der Vorstellung des Berichts mit. Über die persönlichen Konsequenzen für den Alterzbischof hinaus ist der Freiburger Bericht eine deutliche Mahnung, dass Recht gerade in der Kirche ein Instrument für Freiheit und Gerechtigkeit ist und nicht etwa unnötige, unpastorale Bürokratie. Ohne Recht droht die Kirche zu nichts anderem als einer großen Räuberbande zu werden.

Von Felix Neumann