"Es gibt keine Debatte darüber, was der Bericht mit Betroffenen macht"

Betroffenenbeirat Freiburg: Missbrauchsstudie hat uns retraumatisiert

Veröffentlicht am 29.04.2023 um 00:01 Uhr – Von Volker Hasenauer (KNA) – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Vergangene Woche wurde die Freiburger Missbrauchsstudie veröffentlicht. Im Interview erzählt die Vorsitzende des Freiburger Betroffenenbeirats, Sabine Vollmer, wie sie die Veröffentlichung erlebt hat und welche Schritte sie nun erwartet.

  • Teilen:

Die jüngste Studie zu Missbrauch und sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche beschreibt ein System von Vertuschung, Täterschutz und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Die Vorsitzende des Freiburger Betroffenenbeirats, Sabine Vollmer, fordert im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Mittwoch in Freiburg, bei den Schlussfolgerungen aus Studien und Berichten viel stärker die Interessen und Forderungen der Betroffenen zu berücksichtigen.

Frage: Frau Vollmer, seit gut einer Woche liegt der Expertenbericht zu Missbrauch und Vertuschung von sexualisierter Gewalt durch Priester im Erzbistum Freiburg vor. Die Rede ist von 540 Opfern sowie 250 Tätern und Beschuldigten. Wie haben Missbrauchsbetroffene auf die Studie reagiert?

Vollmer: Die meisten Betroffenen berichten uns davon, wie sehr sie der Bericht retraumatisiert. Sie erleiden Flashbacks, fühlen unvermittelt wieder Angst, Hilflosigkeit und tiefen seelischen Schmerz. Viele haben Alpträume, können nicht schlafen oder sind im schlimmsten Fall sogar suizidal. Es tut mir richtig weh, dass so viele Betroffene gerade so sehr leiden müssen.

Und dennoch gibt es keine Debatte darüber, was der Bericht mit Betroffenen macht, welche Unterstützung sie jetzt bräuchten. Ich muss leider feststellen, dass dies niemanden interessiert. Es ist wie immer: Für wenige Tage sind alle erschüttert und für die Mehrheit dreht sich die Welt weiter – während die Betroffenen weiter ums Überleben kämpfen.

Frage: Könnte die Veröffentlichung auch eine Chance für Betroffene sein, ihre eigenen leidvollen Erlebnisse einzuordnen oder aufzuarbeiten?

Vollmer: Ja, einige Betroffene haben sich in den vergangenen Tagen neu beim Beirat gemeldet, weil sie der Bericht ermutigt hat, nun doch auch über ihr Erlebtes zu sprechen.

Frage: Wie bewerten Sie die Reaktionen des Freiburger Erzbischofs Stephan Burger?

Vollmer: Er hat ein ehrliches Interesse an der Aufarbeitung und den Willen, Dinge zu verbessern. Ob es gelingt, wird die Zukunft zeigen. Die Kirche ist ein schwerer Tanker, der sich – wie wir wissen – nur langsam bewegt und schwer zu steuern ist.

Nach Missbrauchsstudie: Was droht Alterzbischof Robert Zollitsch?

Der Freiburger Missbrauchsbericht wirft dem früheren Erzbischof Robert Zollitsch schwere Rechtsverstöße vor. Welche Folgen kann das vor staatlichen oder kirchlichen Gerichten für den 84-Jährigen haben? Eine Analyse.

Frage: Der von der Studie am schwersten belastete frühere Bischofskonferenz-Vorsitzende und Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch schweigt zu den Vorwürfen. Er hat aber seine staatlichen Ehrungen zurückgegeben, das Bundesverdienstkreuz und den Landesorden. Reicht das?

Vollmer: Eigentlich hätte die Politik handeln und Zollitsch die Verleihungen aktiv aberkennen müssen. Leider ist die Politik sehr zurückhaltend. Jetzt wäre die Chance gewesen zu handeln, einen runden Tisch einzuberufen und zu fragen, was brauchen die Betroffenen, was kann die Politik für ihre betroffenen Bürgerinnen und Bürger tun. Der Beirat hat Herrn Zollitsch bereits im vergangenen Jahr empfohlen, seiner Entschuldigung Taten folgen zu lassen und beispielsweise einen Fonds oder ein Spendenkonto einzurichten. Wir waren dazu im Austausch, realisiert wurde es leider noch nicht.

Frage: Ist die Studie ein Schlusspunkt oder sind weitere wissenschaftliche Untersuchungen nötig?

Vollmer: Der systematische Täterschutz und die konsequente Ignoranz gegenüber dem Leid der Betroffenen hat dazu geführt, dass Betroffene über den Missbrauch hinaus viel weiteres Leid ertragen mussten. Wir fordern deshalb zu untersuchen, wie sich die Vertuschung auf die Biografien der Betroffenen ausgewirkt hat und welche Schäden allein dadurch entstanden sind. Dies muss gesondert von den ohnehin bekannten Tatfolgen von sexualisierter Gewalt erfolgen. Die Ergebnisse einer solchen Studie müssen dann umgehend Konsequenzen für die Opferfürsorge haben.

Frage: Der Bericht empfiehlt, Auflagen und Sanktionen für verurteilte Täter strikter zu kontrollieren. Wie sieht das der Betroffenenbeirat?

Vollmer: Das ist sehr wichtig. Wir brauchen eindeutige und transparente Regeln im Umgang mit Missbrauchs- und Verdachtsfällen. Zudem muss ein klares, schriftlich festgelegtes Regelwerk für den Umgang mit ehemaligen Tätern, Beschuldigten und Gefährdern kommen. Diese verbindlichen Regeln müssten auch Fragen der Kommunikation enthalten, beispielsweise mit den betroffenen Pfarreien

Und wir fordern die Kirchenleitung im Freiburger Ordinariat auf, genau zu prüfen, welche Mitarbeiter für die recherchierten Verfehlungen mitverantwortlich waren. Gegen sie müssen dann mögliche arbeitsrechtliche oder strafrechtliche Konsequenzen geprüft werden.

Von Volker Hasenauer (KNA)