"Ermöglichungsbedingungen" für Missbrauch würden nicht angegangen

Großbölting: Missbrauchsaufarbeitung in Kirche "mäßig bis schlecht"

Veröffentlicht am 08.06.2023 um 15:53 Uhr – Lesedauer: 

Münster ‐ Der Historiker Thomas Großbölting kritisiert die Missbrauchsaufarbeitung in der Kirche als "mäßig bis schlecht". Zwar habe es vereinzelt Fortschritte gegeben, die "besonderen Ermöglichungsbedingungen" für Missbrauch gehe man aber nicht an.

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Der Historiker Thomas Großbölting hat der bisherigen Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche ein durchwachsenes Zeugnis ausgestellt. Die Fortschritte bei diesem Thema seien auf allen kirchlichen Ebenen "mäßig bis schlecht", sagte Großbölting am Donnerstag in einem Interview des diözesanen Münsteraner Internetportals kirche-und-leben.de. Zwar habe es durch den Druck der Betroffenen und den dezidierten Aufarbeitungswillen einiger Akteure mit Blick auf Intervention und Meldepflichten sowie Sensibilisierung und Prävention institutionell eine Reihe von Fortschritten gegeben. "Diese Änderungen waren aber keinesfalls dazu angetan, die tiefen Irritationen und Zweifel innerhalb der Kirche zu beseitigen", so der Wissenschaftler, der gemeinsam mit einem Forscherteam das im vergangenen Jahr veröffentlichte Missbrauchsgutachten für das Bistum Münster erstellt hatte.

Er erlebe besonders in den Gemeinden, in denen selbst Missbrauchstäter aktiv gewesen seien, viel echte Empörung und starken Veränderungswillen, der sich aber allzu oft selbst bei ehemals stark engagierten Laien allein in den Rückzug verliere. "Im Gespräch mit kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern höre ich sehr viel Resignation, bei der die eigene Leidenschaft für den Beruf gelegentlich in tiefen Zynismus umschlägt", so Großbölting weiter. Die Gruppe der Priester sehe sich durch die Aufdeckung der zahlreichen Missbrauchsfälle in ihrem eigenen Lebens- und Berufsmodell massiv in Frage gestellt und bleibe in der ganzen Debatte nahezu sprachlos.

"Furchtbare Gewöhnung" an sexualisierte Gewalt in der Kirche

Der Historiker warnte, dass das Problem der sexualisierten Gewalt in der Kirche mehr und mehr aus dem Fokus rutsche. "Nach mittlerweile 13 Jahren öffentlicher Beschäftigung mit dem Thema erschrickt es niemanden mehr, wenn beispielsweise der spätere Papst Benedikt in seiner Amtszeit als Bischof massiv vertuscht hat, ein Kölner Geistlicher seine eigenen Nichten missbrauchte oder in der nächsten Studie wiederum jeder zwanzigste Diözesanpriester sexuellen Missbrauchs beschuldigt wird", erklärte Großbölting. Diese "furchtbare Gewöhnung" spiegele sich in der öffentlichen Beschäftigung damit, die mehr und mehr abstumpfe und zur Routine werde.

Der Wissenschaftler kritisierte weiter, dass die "besonderen Ermöglichungsbedingungen im Katholischen" für Missbrauch nicht angegangen würden: "Missbrauch basiert auf Pastoralmacht, die wiederum abgeleitet ist von der Markierung des einzelnen Priesters und der gesamten Hierarchie als 'heilig'." Neben diesen Klerikalismus träten männerbündische und frauenfeindliche Strukturen, eine latente Homophobie und eine "vollkommen scheinheilige Sexualmoral". "Das sind Faktoren, die im Katholischen Missbrauch ermöglichen und das Vertuschen befördern. An diese sehr basalen Zusammenhänge wird bislang nicht gerührt", so Großbölting. (stz)