Vier Textilien als Glaubensstärkung: Die Aachener Heiligtumsfahrt
Ob sie Stress hat? "Verglichen mit dem Wochenende ist das gar nichts", sagt Nadine Braun. Denn da waren 20.000 Menschen vor Ort. Die 26-Jährige ist der organisatorische Kopf der diesjährigen Aachener Heiligtumsfahrt – und bewegt sich entspannt durch die Aachener Innenstadt. Es ist ihre erste Heiligtumsfahrt – und dann gleich als Chefin. Bevor sie sich an diesem Tag Zeit nimmt, hat sie schon einige Termine hinter sich: Jeden Morgen um acht Uhr schaltet sie sich unter anderem mit Vertretern von Polizei und Ordnungsamt zusammen, um tagesaktuelle Themen zu besprechen. Wegen der unerwartet hohen Temperaturen wurden etwa kurzfristig Sonnenschirme angeschafft. Danach folgt um neun Uhr die Besprechung mit den Bistumsmitarbeitenden. Dann geht es raus auf den Rundgang durch das Wallfahrtsgeschehen. Die gelernte Veranstaltungskauffrau nimmt es gelassen, grüßt auf dem Weg um den Dom immer wieder Kolleginnen und Kollegen sowie organisatorische Partner. "Die Wallfahrt saugt einen so richtig ein. Ich fühle mich als Teil eines großen Ganzen."
Im Gegensatz zum Wochenende ist es heute etwas ruhiger. Auch die Pilgermesse auf dem Katschhof im Schatten des Doms ist am Vormittag eher dürftig besucht, vielleicht die Hälfte der Plätze ist besetzt. Zwischendurch schieben auch immer wieder Unbeteiligte ihre Fahrräder über den Platz, der säkulare Alltag läuft unbeirrt weiter. Bei sehr sonnigem Wetter werden den Gläubigen auf dem Katschhof auch heute wieder die vier Heiligtümer gezeigt: Das Kleid Mariens, die einzige der Textilreliquien, die noch entfaltet werden kann, die Windeln Jesu, das Lendentuch Jesu und das Enthauptungstuch von Johannes dem Täufer. Karl der Große brachte die Stoffstücke um 799 nach Aachen, angeblich aus Jerusalem. Ob sie echt sind? Dafür gibt es keinen Beleg. Was aber auch schon im Gottesdienst klar wird: Darauf kommt es gar nicht so sehr an.
Das sagt auch Martik Torzewski, der heute als Teil einer Küstergruppe nach Aachen gepilgert ist: "Ich bin eigentlich kein Fan von Reliquien", sagt er. Aber mit ihrer Symbolkraft kann er schon etwas anfangen. "Sie sind ein Symbol, etwa für die Geburt Jesu." Das sieht eine Pilgerin aus Mönchengladbach ähnlich. "Mein Mann hat immer gesagt: 'So groß war Maria nie, dass sie in dieses Kleid gepasst hätte.'" Sie lacht. "Aber diese Reliquien führen uns zum Ursprung des Glaubens." Das sei angesichts der momentanen Situation der Kirche und der vielen Diskussionen ein Wert an sich. Das erlebt die Küsterin auch im Pfarreialltag. "Da ist es nicht immer leicht, die Zuversicht zu behalten."
Zwischen Anbetung und Webstuhl
Nadine Braun führt durch das Viertel um den Dom, wo ganz verschiedene Stände als Teil des Wallfahrtsprogramms eingerichtet sind. Dazu gehört ganz traditionell ein Wallfahrtsbüro oder die Eucharistische Anbetung in einer der Kapellen der Stadt. Bezugnehmend auf die Textilreliquien geht es aber auch um Stoff. So wird etwa ein Stoffballen durch die Stadt gerollt, für den Menschen Stoffe spenden konnten, mit denen sie eine Geschichte verbinden. Dazu gehört aber auch ein Stand mit einem Webstuhl. Hier werden nicht mehr verwendbare Altkleider aus Obdachloseneinrichtungen zerschnitten und zu einem Teppich neu zusammengewebt. Ein Hinweis darauf, dass die Region nicht nur durch insgesamt vier Heiligtumsfahrten, sondern auch durch Strukturschwäche geprägt ist. "In vielen Regionen war früher klar: Nach der Volksschule geht es direkt in die Spinnerei gegenüber", erzählt Matthias Merbecks vom Koordinationskreis kirchlicher Arbeitsloseninitiativen. Der Niedergang der Textilindustrie habe dann ganze Lebensentwürfe zerstört. "Da diese Menschen oft nicht viel Bildung hatten, konnten sie nur schwer umgeschult werden. Langzeitarbeitslosigkeit hat sich entwickelt, die über Generationen weitergetragen wird. Ohne Arbeit ist man in unserer Arbeitsgesellschaft aber außen vor. Mit dem Teppich, den wir hier weben, wollen wir ein Zeichen setzen, diese Menschen wieder in die Gesellschaft zurückzubringen."
Nur ein paar Meter weiter gibt es einen Raum zum Runterkommen. Wasser und einen Apfel gibt es gleich dazu. "Wir kommen hier mit vielen Menschen ins Gespräch", erzählt die Ehrenamtliche Beate Färber. Die wollen oft in erster Linie Pause machen – doch dabei geht es auch immer wieder um den Glauben. Das bestätigt auch Doris Keller, die als Freiwillige beim Infopunkt an der Rotunde am Rand der Innenstadt arbeitet: "Zuletzt war ein Wallone hier, der sich für die Heiligtumsfahrt interessiert hat – und sich wunderte, dass es keine Prozession gibt. Da prallen dann Traditionen aufeinander." Gleiches höre man dort auch immer wieder von Pilgern aus dem Süden Deutschlands, sagt ihr Kollege Tobias Schneider. Da tritt der 81-jährige Heinz Arenhövel zum Stand. Der hat mit der Wallfahrt eigentlich gar nichts zu tun. Er hat eine Fahrt der Senioren-Union aus Meschede organisiert, doch ein Programmpunkt ist ausgefallen. Ob es vielleicht etwas gäbe, was er als Ersatz einsetzen könnte? Da kann ihm geholfen werden. Denn dort, wo heute früh auf dem Katschhof noch die Messe gefeiert wurde, ist am Nachmittag Konzert. Was das denn koste? Nichts. "Alles kostenlos? Das bei der Kirche", wundert er sich.
"Wir stehen in einer Tradition, die wir nicht unterbrechen dürfen"
Die beiden Ehrenamtlichen am Infopunkt sind Teil eines großen Teams. 200 Menschen konnte das Bistum zur Mitarbeit gewinnen, dazu kommen Haupt- und Ehrenamtliche der Stadt, aus den Pfarreien und Verbänden. Klingt nach guter alter Wallfahrts-Zeit in Aachen.
Dem ist aber nicht so, sagt Dompropst Rolf-Peter Cremer, der gerade aus dem Dom kommt. "Es ist nicht mehr so, dass Zigtausende Ehrenamtliche aus den Gemeinden und Verbänden zu uns kommen. Es war große Arbeit, um sie zu werben", sagt er. Auch gebe es heute immer mehr Anfragen, insbesondere an eine Wallfahrt wie diese. Dem hält er aber entgegen: "Wir stehen in einer Tradition, die wir nicht unterbrechen dürfen." Fragen etwa der Missbrauchsaufarbeitung oder nach Macht und der Rolle der Frauen in der Kirche seien wichtig und müssten bearbeitet werden. "Aber bei der Heiligtumsfahrt geht es um eine Stärkung und Mut für genau diese Wege. Die Heiligtümer führen zur Zeit Jesu und zum Evangelium." Mit dem Verlauf der Wallfahrt ist er bisher sehr zufrieden. Einerseits seien auch zu kleineren Gottesdiensten viele Menschen da, es gehe aber auch um die Stimmung: "Die Heiligtumsfahrt ist spürbar in der Stadt, auch mit einer gewissen Leichtigkeit, die auch sagt, dass Katholischsein etwas Schönes sein kann."
Aus der immer unbarmherziger werdenden Hitze geht es nun in den kühlen Dom. Heute ist die Schlange relativ übersichtlich, sagt Braun. "Am Wochenende muss man schonmal eine Stunde anstehen." Vom Hauptportal der Kirche bahnt sich die Schlange der Menschen ihren Weg durch das zentrale Oktogon hin in den gotischen Chor der mehr als 1.000 Jahre alten Kathedrale, in der jahrhundertelang die deutschen Könige gekrönt wurden. Im Chor stehen die Heiligtümer – nach der Messe nun in den Dom zurückgebracht – in Vitrinen. Eine Seite der Vitrinen ist jeweils offen und ein Mensch steht daneben. Wer mag, kann ihm sein grünes Pilgerhalstuch geben, mit dem dieser dann ein Tuch zu Füßen der Reliquie berührt. Damit bekommt auch der kleine Schal die Aura der Wallfahrt. Trotz der vielen Menschen ist es im Dom relativ ruhig, wenn auch die Luft nach Wärme und Menschen riecht und etwas muffig ist. Entspannt laufen die Gläubigen durch das Oktogon zurück und zu einer anderen Tür aus dem Dom wieder hinaus. Dort können sie, wenn sie mögen, ihre Erfahrungen in einem kleinen Video einem Automaten erzählen.
Dicke Luft im Dom als Problem
1.300 Jahre alte Stoffe, eine der ältesten Kirchen Deutschlands – geht da nicht auch mal was kaputt? Dombaumeister Jan Richarz, der Nadine Braun gerade die Hand schüttelt, wirkt ob dieses Szenarios doch eher entspannt. "Das Hauptportal des Domes ist 1.200 Jahre alt und wird jedes Jahr von 1,4 Millionen Besuchern berührt – das ist das Risiko, das wir hier eingehen." Viel schlimmer ist für ihn tatsächlich die dicke Luft im Dom, denn die bewirkt Korrosion an den Marmorverkleidungen. Dafür gibt es einen CO2-Messer. "Wenn der ausfällt, das wäre schlimm. Den Rest kriegen wir hin." Am Ende scherzt er noch. "So lange nicht ein Heiligtum kaputt geht, ist alles in Ordnung."
Wenn man den Anekdoten glauben darf, ist das keine leere Drohung, sondern vor vielen Jahrhunderten wirklich mal passiert. Denn eigentlich waren es fünf Heiligtümer, die in Aachen verehrt wurden. Doch die zweite Windel Jesu fiel einst einer niederländischen Pilgerin auf den Kopf und wurde Opfer der Souvenirleidenschaft der Umstehenden: Sie zerrissen das Tuch in zahllose kleine Fetzen. Seitdem sind es nur noch vier.
Diese Gefahr ist in diesem Jahr erstmal gebannt. Laut letztem Augenschein sind die Heiligtümer unversehrt in Aachen. Nadine Braun bleibt unbeschwert. Sie hat ihre ganz eigene Erfahrung mit den Reliquien gemacht. In einem Gottesdienst durfte sie schon eine in den Händen halten und den Gläubigen zeigen. "Meine größte Angst war, dass sie mir hinfällt", sagt sie und lacht erleichtert. Denn es ist alles gut gegangen. Wer die Heiligtümer mit behandschuhten Händen festhält, darf sie nur an den Bändern anfassen, die sie zusammenhalten – "dann kann fast nichts passieren". Während sie erzählt, stolpert sie kurz. Ein loser Stein im Aachener Pflaster – es ist nicht der einzige. Sie macht sich eine Notiz. Das wird sie morgen mit der Stadt besprechen. Dann werden wieder neue Pilger nach Aachen kommen.