Religionspädagoge ärgert sich oft und heftig über die Kirche

Biesinger wird 75: Ein Theoretiker, dem die Praxis heilig ist

Veröffentlicht am 01.08.2023 um 00:01 Uhr – Von Michael Jacquemain (KNA) – Lesedauer: 
Professor Albert Biesinger
Bild: © privat

Tübingen ‐ Albert Biesinger behandelt seit Jahrzehnten Themen, die für die ganze Gesellschaft bedeutsam sind: Wie gelingt ein vernünftiges Miteinander der Religionen? Wie heute von Gott sprechen? Heute wird der Theologe 75 Jahre alt.

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Albert Biesinger ist ein Theoretiker, dem die Praxis heilig ist. Nüchtern schaut der katholische Religionspädagoge auf die Wirklichkeit, testet und probiert, was warum funktioniert oder weshalb nicht. Im Ergebnis arbeitet Biesinger, der offiziell seit einem Jahrzehnt im Ruhestand lebt, heute nicht viel weniger als zu seinen Tübinger Zeiten als Professor. Mit dem Unterschied, dass er nur noch die beiden Themen beackert, für die er brennt: Familienreligiosität und Familienkatechese sowie die Fortbildung für Kita-Personal zu religiöser und interreligiöser Bildung. Am 1. August wird der vierfache Vater und neunfache Opa 75 Jahre alt.

Über die Kirche ärgert sich Biesinger oft und heftig. Und redet dabei Klartext fernab professoraler Zurückhaltung: Statt ihrer "inkompetenten Sexualethik" mit "völlig sinnlosen Bemerkungen" etwa zu vorehelicher Sexualität, Empfängnisverhütung und Homosexualität wäre es aus seiner Sicht hilfreich, wenn sich die Kirche Gedanken um ein gelingendes körperliches Miteinander in Partnerschaften machen würde. Viele herkömmliche Gottesdienst-Formate nennt er "Auslaufmodelle" und will "familientaugliche, generationenübergreifende Eucharistiefeiern und Wortgottesdienste mit lebensrelevanter Qualität".

Ende der "Theologenverfolgung"

Und er fordert ein Ende der "Theologenverfolgung", womit er die Probleme vieler Wissenschaftler meint, vor der Übernahme einer Professur in katholischer Theologie eine kirchliche Unbedenklichkeitserklärung zu erhalten. Sehr viel Hoffnung auf einen Wandel setzt er in den neuen Chef der Glaubensbehörde im Vatikan, Erzbischof Victor Manuel Fernandez. Überhaupt ist Biesinger ein zuversichtlicher Mensch: Resignation und Verzweiflung macht er bei Problemen und Ärgernissen nicht zu seiner Perspektive, stattdessen "bekomme ich eine Wut. Meine Psyche tickt in Richtung: jetzt erst recht." Das sei auch gut so, denn Wut gebe Kraft.

Angefangen hat Biesingers Karriere in Tübingen. Dort studierte er Theologie, später Erziehungswissenschaften. Im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über die Darstellung des jüdisch-christliches Verhältnisses im Religionsunterricht habilitierte er und war "über Antijudaismus und Antisemitismus erschüttert". Salzburg war 1982 die erste Uni, in der er als Professor lehrte. Ein Jahr später ließ sich Biesinger dort zum Diakon weihen. 1991 wechselte der Mitherausgeber der "Theologischen Quartalsschrift" nach Tübingen.

Explosion hellen Glücks – was Nahtoderfahrungen über den Glauben sagen

Licht am Ende des Tunnels, das Leben als Film – es gibt verschiedenste Berichte über Nahtoderfahrungen. Die von Religionspädagoge Albert Biesinger war sehr individuell. Im Interview mit katholisch.de spricht er über sein Erlebnis und sagt: Es ist zwar kein Gottesbeweis, kann aber ein Hinweis sein.

Biesingers Denken ist nach längeren Aufenthalten in Peru und Chile stark durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie geprägt – nicht zuletzt durch seine freundschaftliche Beziehung zu Gustavo Gutierrez, dem Namensgeber dieser theologischen Richtung. Biesinger übernahm von der Südhalbkugel die Überzeugung, dass nicht Orthodoxie, sondern Orthopraxie entscheidend ist: also weniger das Lehrgebäude als das konkrete Leben der Menschen. Die dort entwickelten Konzepte nennt Biesinger "eine Gabe Lateinamerikas für die Weltkirche".

Geburtstagsfeier in Schweigeexerzitien

Entsprechend setzt er in seinem wissenschaftlichen Arbeiten unten an. In Berufsschulen unterrichtete er Metzgerlehrlinge und angehende Friseurinnen. Wichtig ist ihm auch die Arbeit mit Fachkräften in Kindertagesstätten. Vor Ort und im Internet beantwortet er mit seinem früheren evangelischen Tübinger Kollegen Friedrich Schweitzer niedrigschwellig und alltagstauglich Fragen der Basis: Dürfen muslimische Kinder beim Krippenspiel mitmachen? Ist es besser, das Gedenken an den heiligen Martin als Lichterfest zu feiern? Die religiöse Bildung von Kita-Personal und -Eltern nennt er eine "gesellschaftliche Schlüsselherausforderung". 2002 gründete er deshalb auch eine "Stiftung Gottesbeziehung in Familien".

Bücher schreibt Biesinger in einer Taktung, die manche beim Schreiben von Briefen nicht schaffen: Um die 100 Titel hat er bislang veröffentlicht, sein bekanntester heißt "Kinder nicht um Gott betrügen". Auch sein jüngstes, vor ein paar Wochen erschienenes Buch trägt einen typischen Biesinger-Titel: "Warum kommen wir auf die Welt, wenn wir doch wieder sterben müssen?" Seinen runden Geburtstag will der mit einer Kinderkrankenschwester verheiratete Sohn einer Kleinbauern-Familie in Taizé verbringen – allein und in Schweigeexerzitien, für ihn "purer Luxus". Mit der Familie hat er dann schon gefeiert.

Von Michael Jacquemain (KNA)